Mannheim. Riesige Ballon- oder Diamant-förmige Gebilde hängen rot glühend über der ausladenden Bühne in der SAP Arena. Sphärische Musik steigert die Spannung der geschätzt 7000 Fans in der SAP Arena, bis es kurz nach 20 Uhr dunkel wird und ein dröhnender Pulsschlag aus den Boxen den Star des Abends ankündigt: Helene Fischer.
Standesgemäß schwebt die Schlagerkönigin wie an Bungee-Seilen von der Decke, singt ein Begrüßungs-Intro und badet in den Ovationen ihres Publikums. Mit der eingängigen, druckvollen Nummer „Null auf 100“ vom immer noch aktuellen Album „Rausch“ (2021) steigt die Stimmung wie mit dem Bleifuß befeuert – wobei das Publikum am Dienstagabend anfangs nicht so extrem euphorisch reagiert, wie man es von früheren Arena-Shows der langjährigen Rheinhessin kennt.
Beginn "unserer schönen Mannheim-Woche"
Wobei schon das zweite Lied, das ebenfalls eher poppige „Genau dieses Gefühl“ frenetisch mitgesungen wird. Überwiegend von jungen Frauenstimmen. Die stimmen auch bei „Fehlerfrei“ ansatzlos und mit viel Herzblut ein – jetzt sind wir in der Schlagerwelt gradliniger Rhythmen.
„Hallo Mannheim!“, ruft die von fast 20 Tänzerinnen und Tänzern begleitete Sängerin zuvor in ihrem routiniert natürlich-charmanten Animationsmodus, „Ihr Lieben, schön, dass ihr alle da seid! Und vor allem schön, dass wir wieder bei euch sein können.“ Es sei schließlich fünf Jahre her, dass sie zuletzt in der SAP Arena gewesen sei, erinnert sie sich zu Beginn „unserer schönen Mannheim-Woche.“
55000 Plätze bei fünf Shows nicht ausgebucht
Fünf Mal hält die Schlagerkönigin Hof in der Quadratestadt. Der Veranstalter Live Nation will trotz Nachfrage keine genauen Besucherzahlen nennen. Klar ist aber: Es gibt in Mannheim nur einen Sold-Out-Award für 11 000 verkaufte Karten an einem Abend. Anders als bei ihrem ersten, restlos ausverkauften Konzert-Fünferpack im Oktober 2017 wird die Gesamtkapazität von 55 000 Plätzen nicht ausgereizt.
Aber das ist trotz des zusätzlichen Anreizes durch den Cirque du Soleil kein Grund für einen Abgesang auf diese einmalige Karriere vom Kind einer Aussiedlerfamilie bis zur erfolgreichsten Sängerin der Republik. Angesichts von Pandemie-Nachwirkungen und Krisen. Die anderen vier Shows sollen auch besser gefüllt sein als das Auftaktkonzert.
Helene Fischer - fast wie bei Madonna
Als die gesamte Bühne rot glüht, übernehmen die Artistinnen und Artistem des Cirque du Soleil die Bühne – und den Luftraum darüber. Man kann erahnen: Jetzt kommt Fischers bester Live-Song: „Herzbeben“. Ein Dancefloor-Kracher, der wie immer choreografisch und luftakrobatisch so stark in Szene gesetzt wird, dass er auch in einem Madonna-Programm nicht unangenehm auffallen würde.
Der klassische Neo-Schlager „Mit keinem Andern" setzt nach diesem Glanzlicht auf internationalem Niveau einen sehr harten Kontrapunkt, begeistert aber die mitsingfreudigen Fans restlos.
Bei der Hitballade „Volle Kraft voraus“ führt die gelernte Musical-Darstellerin ihre stimmlichen Qualitäten in vielen Facetten vor – umweht von roten Stoffbahnen, die mit der Bühnenbildanimation ein faszinierendes Gesamtbild ergeben. Ein eskalierendes Gitarrensolo unterstreicht, dass der moderne Schlager nicht nur bei Ben Zucker und Co. ein breiteres Spektrum hat als Vier-Viertel-Takt und abgetakelte Disco-Soundeffekte. Zu „Wunden“ erhebt sich die frisch umgezogene 38-Jährige wieder in die Lüfte und reiht sich zwischendurch in die hochpräzise tanzende Compagnie ein, die auch bei US-R'n'B-Stars funktionieren würde.
Schlager wirkt fast schon als Kontrapunkt
Es folgt zum Entzücken der Fans ihre erste relativ gewagte Luftakrobatik-Einlage mit einem der Cirque-Artisten ohne große Absicherung. Das sieht man sonst allenfalls bei Pink. All die Bildgewalt auf Weltniveau will dann nicht so recht zu einem altgedienten Schlagerchen wie „Ich will immer wieder... dieses Fieber spür’n“ passen – aber es steigert natürlich massiv dessen Unterhaltungswert. „Sind die nicht sexy?“, fragt sie beim Abgang ihrer Tänzerinnen – gut, dass sie kein Schlagersänger ist. Dann macht „die schöne Helene“ trotz Graben möglich, dass ein kleiner Fan ein Selfie mit ihr bekommt. „Rausch“ und besonders „Vamos a marte“ (mit kleiner Rap-Einlage) sind feurig in Szene gesetzt.
Helene Fischers "Rausch"-Tour in Mannheim - das Programm
Erster Teil
1. Null auf 100
2. Genau dieses Gefühl
3. Fehlerfrei
4. Herzbeben
5. Mit keinem Andern
6. Volle Kraft voraus
7. Wunden
8. Ich will immer wieder... dieses Fieber spür’n
9- Nur mit Dir
10. Rausch
11. Vamos a marte
12. Wenn alles durchdreht
13. Never Enough (Benj Pasek, aus „The Greatest Showman)
14. Hand in Hand
Zweiter Teil
15. Medley: Hundert Prozent / Und morgen früh küss ich Dich wach / Mitten im Paradies / Die Hölle morgen früh / Von hier bis unendlich / Mit dem Wind
16. Regenbogenfarben
17. Luftballon
18. Wann wachen wir auf
19. Phänomen
20. Atemlos durch die Nacht
21- Liebe ist ein Tanz
22. Flieger
23. Unser Tag
24. Achterbahn
Zugabe
25. Blitz
26. Alles von mir
Nach knapp 90 Minuten geht es mit den beiden anrührenden, sehr stark interpretierten Balladen „Never Enough“ und dem fast an Elvis Presleys Inbrunst erinnernden „Hand in Hand“ in die Pause. In der Fischers auf Dauer wirklich nervtötende Lidl-Werbung genauso präsent ist, wie die Bühnenarbeiter, die eine B- und eine C-Stage mitten in den Saal schieben.
Zweite Hälfte beginnt mit Medley
Dort beginnt kurz vor 22 Uhr die zweite Hälfte mit einem sitzend im Unplugged-Stil gespielten Medley aus von den Fans heftig abgefeierten klassischen Fischer-Schlagern. Danach geht der Star wieder auf Tuchfühlung mit „meinen Süßen“ inklusive Geburtstagsständchen. Temperamentvoll brüllt sie auf ein „Ich liebe dich“ schon mal zurück „Ich liebe ich auch!“. Und witzelt: „Ich hoffe, dass du mit deiner Frau auch so umgehst.“
Plädoyer für Toleranz
Den ewigen Vorwürfen, sie würde ihre enorme Reichweite gesellschaftspolitisch zu wenig nutzen, setzt sie das stark umjubelte harmoniesatte Plädoyer für Toleranz mit dem Titel „Regenbogenfarben“ entgegen. Durchaus auch ein Höhepunkt. Auch das rockig-rau gesungene „Wann wachen wir auf“ blickt über den Tellerrand typischer Schlager-Harmonie-Sucht und fordert Gemeinsinn.
Trotzdem stellt sie klar, dass sie fast drei Stunden lang Unterhaltung bieten will, die hilft, dem Alltag zu entfliehen – und alle möglichen Stimmungen zu teilen. Auch Trauer. So singt sie ganz allein mitten im Saal die Verlust-Pianoballade „Luftballon“ im Lichtermeer tausender Smartphones. „Phänomen“ und die wieder einmal runderneuerte Live-Versionvon „Atemlos durch die Nacht“ sind wie gewohnt die Abräumer. Aber: Darüber, wie Fischer sich auf einer dritten Bühne an einem Roboterarm wie ein Uhrzeiger durch die Luft wirbeln lässt und dabei fehlerlos singt, verblüfft einen auch als extrem regelmäßiger Konzertgänger ganz.
Bis hin zu Hardrock- und Metal-Sounds
Es folgt in der zwangsläufigen Pause danach eine fast metallisch rockende Einlage der Band. Mit „Achterbahn“ endet der zweite Teil nach 23 Uhr fast mit musikalischem Overkill – dem Rock-Äquivalent zu „Herzbeben“. Daran schließt die schnell erklatschte Zugabe mit dem Hardrocker „Blitz“ und dem puristischen Liebeslied „Alles von mir“ als Schlusspunkt an. „Ich hoffe, dass wir nicht wieder fünf Jahre warten müssen“, verabschiedet sich die nach drei Stunden immer noch unglaublich fitte Hauptdarstellerin.
Wenn man an Helene Fischer keine Maßstäbe anlegt, wie an Bob Dylan oder U2 muss man Kritikpunkte mit der Lupe suchen. Am ehesten dürften sich eingefleischte Schlager-Fans darüber ärgern, dass diese Show für ihren Geschmack musikalisch zu heftig und zu laut ist. Vor allem enthält sie höchstens zu zwanzig Prozent der Spielzeit Schlagerelemente - abgesehen von den Texten.
Positive Weiterentwicklung
Und es gibt sogar eine positive Entwicklung: im Vergleich zu ihren letzten Mannheimer Shows hat die im sibirischen Krasnojarsk geborene Russlanddeutsche als Entertainerin noch mal zugelegt. Insgesamt wirkt sie authentischer und im gesanglichen Ausdruck sehr viel weniger manieriert, als es vor fünf oder sechs Jahren mitunter der Fall war.
Ihre eigene artistische und tänzerische Qualität macht die Zusammenarbeit mit dem kanadischen Cirque du Soleil zu mehr als einem marktstrategischen Gimmick. Es passt. Denn so gleicht wirklich keine Liedinszenierung visuell der nächsten. Und sogar die Garderobenpausen werden spannend gefüllt. Mit den handelsüblichen Schlagerklischees hat die „Rausch“-Tournee fast nichts mehr am Hut.
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/kultur_artikel,-kultur-sap-arena-im-helene-fischer-rausch-_arid,2092284.html
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.mannheimer-morgen.dehttps://www.mannheimer-morgen.de/firmen_firma,-_firmaid,13.html
[2] https://www.mannheimer-morgen.de/orte/mannheim.html