Heidelberg. Wie ein Kavalier der guten, alten Schule steigt Graf Almaviva nicht gerade in die Handlung ein. Zumindest nicht in Heidelberg. Mit Mikro, rotem Rüschenhemd und aufgesetzter Theatralik singt er seine Cavatine. Dass die Adressatin dieses Ständchens nicht ans Fenster kommt, ist zu verstehen. Almaviva wirkt wie ein missglückter Mix aus Michael Jackson und Rex Gildo. Ist die von Rossini kultivierte Form einer Musikkomödie nicht auch eine Heimstätte der leeren Posen, simulierten Leidenschaften und erfundenen Gefühle? Und in dieser Hinsicht, mit ein wenig Mutwillen, dem deutschen Schlager aus der Zeit um 1970 teilweise vergleichbar?
Eine Lust am Unechten durchzieht die neue Heidelberger Inszenierung des „Barbiere di Siviglia“. Inga Levant, eine überaus erfahrene Musiktheaterregisseurin, deren Weg von Russland über Israel und London nach Berlin führte, hat sie entwickelt. Levant schwärmt von den „genialen Schemata“ Rossinis, seinem Spiel mit den Versatzstücken, normierten Bausteinen - was jede Menge Interpretationsraum biete. Manchmal treibe er das Spiel bis ins Absurde. Levant zieht gar den Vergleich mit Lewis Carrolls „Jabberwocky“, dem Gedicht, das ungeschützt den puren Nonsens zelebriert, korrekt gebaute Verse mit von jedem Inhalt freien Worten füllt: Da ist kein „Sinn“, aber die Form bleibt stets gewahrt.
Graf, Barbier und Figaro
- In Heidelberg gibt es bekanntermaßen „nur“ die Vorgeschichte: Im „Barbiere di Siviglia“ wird dem Opernpublikum erzählt, wie der Graf Almaviva seine Angebetete Rosina aus den Klauen ihres alten, geldgierigen Vormunds reißt. Mit Unterstützung seines Helfers Figaro erweist er sich als listenreicher Liebhaber.
- Doch in der Fortsetzung - auch sie basiert auf einer Vorlage von Pierre Caron de Beaumarchais - wird aus dem Grafen ein nur allzu rasch zur Eifersucht bereiter Ehemann. Und gleichzeitig ein ziemlich übler Schürzenjäger. In „Le nozze di Figaro“ fand Mozart dafür 1786 äußerst suggestive Töne. Den „Barbiere“ gab es bereits 1782, von Giovanni Paisiello komponiert.
- Die Fassung von Rossini freilich wurde die bestimmende, bis heute gültige. Er schrieb sie 1816 mit erst 23 Jahren, aber es war schon sein 17. Musiktheaterwerk. Noch Friedrich Nietzsche rühmte es gleichwohl als „überschäumend animalisch“.
- Heidelberger Aufführungen im Marguerre-Saal: 9. und 30. Mai, 3. Juni.
Die Inszenierung bastelt sich aus den Komödienbausteinen buchstäblich eine Welt zusammen. Die Figuren auf der Bühne schleppen Kabeltrommeln oder Werkzeugkästen, nehmen Hämmer in die Hand. Rosina (Katarina Morfa), die vom Grafen Almaviva manchmal etwas unbeholfen angebaggerte Person, ersetzt ihr Mädchenkleid für kurze Zeit mit einem Overall. Will endlich mal die (Liebes-) Dinge anpacken. Nicht länger Püppchen sein.
Aber das soll nicht heißen, dass die Inszenierung eine klare Richtung hat. Denn ihre Gags scheinen recht häufig aus der Bau- beziehungsweise Supermarktabteilung mit den Sonderangeboten eingesammelt. Höchste Qualität ist da nicht immer garantiert, und manchmal scheint es, als ob jede Pointe, die sich anbietet und nicht bis Drei beiseite springt, willkommen ist. Ein ziemlich krudes Sammelsurium.
Auch das Bühnenbild von Petra Korink setzt auf ungebundene Assoziation: Eine im Stil Joan Mirós bemalte Wand steht für die Außenwelt, eine abstrakte „Wunderkammer“ für das Binnenreich des alten Junggesellen Bartolo - das ein Gefängnis für Rosina ist. Die Kammer hat auch surreale Züge. Tierreproduktionen sind über den Bühnenraum verteilt, die größte ist ein Bär, der aufrecht dasteht. Was es mit ihm auf sich haben könnte, wissen in der Pause der Premierenaufführung sogar erfahrene Musiktheatergänger nicht so recht zu sagen. Erst im zweiten Akt wird manches deutlicher: Das Zottelwesen ist zumindest teilidentisch mit Dottore Bartolo. Der Bär wird eingeseift, erhält von Figaro (Ipca Ramanovic) eine Rasur mit einer Fuchsschwanzsäge. Und am Ende ist er schwer verwundet und dick bandagiert. Der alte Bartolo muss seine Niederlage eingestehen. Almaviva triumphiert, wenn auch vor allem durch sein Schmiergeld. Er wirft förmlich damit um sich.
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Der „Barbiere“ ist nun allerdings kein Welterklärungsstück. Es geht um die Komödie. Und noch mehr um die Musik und um die Freuden des Belcantos. Die Gesangskultur soll ja bereits nach 1830 nachgelassen und Rossini mit dazu bewogen haben, dass er seine Notenfeder irgendwann mit einem Kochlöffel vertauschte. Kaum mehr komponierte. Die Gesangskultur im 21. Jahrhundert würde ihn wohl auch nicht umstimmen: Noch zu Beginn der Heidelberger Aufführung wird „Largo al factotum“, die berühmte Auftrittsarie Figaros, sein großes Loblied auf sich selbst, zu einer ziemlichen Enttäuschung. Weil Ipca Ramanovic nie richtig in die Gänge kommt und dem Orchester manchmal hinterherhechelt. Obwohl er auf einer Rakete einschwebt - die aber nur Pappmaché und Spielzeug ist.
Die von Rossini eingeräumten Freiheiten der Ausgestaltung einzelner Sequenzen werden in der Heidelberger Produktion aber bisweilen auch genutzt. Am zwingendsten in der „Musikstunde“ des zweiten Akts, wo es den Interpretinnen und Interpreten offensteht, die Stücke frei zu wählen. Und die „Schülerin“ Rosina baut hier tollkühn kleine Auszüge aus Mozarts „Rache-Arie“ aus der „Zauberflöte“ ein. Sogar der Ruf der Wagner’schen Walküren taucht kurz auf: „Hojotoho!“ Rosina Katarina Morfa bringt das überzeugender als manches andere an diesem Abend.
Dem Musiklehrer Basilio - dessen Hauptberuf eher mit „Heuchler“ anzugeben ist - gibt Wilfried Staber eine feste komödiantische Statur. Doch der Belcanto-Stil à la Rossini ist bei Stefan Stoll am besten aufgehoben, er beherrscht ihn eloquent. Obwohl er doch den eher tumben, „bärenhaften“ Bartolo verkörpert. Ein Relikt der alten Zeit. Was dann auch wieder passt.
Kapellmeister Paul Taubitz macht dem Philharmonischen Orchester Heidelberg viel Dampf, in der Gewitterszene setzt es kräftigen Theaterdonner. Manchmal wird das Plastische zum Plakativen. Die berühmte Ouvertüre - mit dem Rest der Oper hat sie nichts zu tun, sie wurde von Rossini schon zuvor verwendet - weiß er aber trefflich zu sezieren. Bis in ihre kleinsten Bausteine.
Graf Almaviva schließlich streift sein Michael-Jackson- und Rex-Gildo-Image ab: Joao Terleiras süffiger Tenor verströmt vor allem in der Schlussszene eine befreite Siegerlaune.
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