Berliner Theatertreffen - Ob angestaubte Avantgarde oder Aufbruch zu neuen Formen – auf jeden Fall ein guter Jahrgang

Romantisch war gestern

Von 
Wolfgang Bager
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Der leitende Dramaturg des Berliner Theatertreffens, Daniel Richter. Zum 55. Mal zeigten die Festspiele die „bemerkenswertesten“ Regiearbeiten der Saison – eine Jury wählt zehn Inszenierungen aus und schlägt sie dem Intendanten zur Einladung vor. © dpa

Zeitenwenden erkennt man erst, wenn sie zurückliegen. Die wenigsten Besucher der Uraufführung von Brechts „Trommeln der Nacht“ dürften 1922 geahnt haben, was die von Regisseur Otto Falckenberg aufgehängten Plakate mit dem Brecht-Zitat „Glotzt nicht so romantisch“ bedeuten mögen. Dabei ging es um den Aufbruch in ein neues Theater-Zeitalter, um den Abschied von der Illusionsbühne, hin zum epischen Theater, wie es Brecht vorschwebte. Beim 55. Berliner Theatertreffen, das gestern Abend zu Ende ging, hingen die Plakate mit der provokanten Aufforderung wieder. Und wieder könnte es um einen Aufbruch zu einem neuen Theaterverständnis gehen.

Zu sehen waren Inszenierungen in bester, aber schon da gewesener Regie-Tradition im Wechsel mit Aufbruch-Arbeiten zu neuen Ufern. Und auch die Podiumsdiskussionen thematisieren die Grenzen zwischen Bühnenkonvention und einer neuen, vielleicht sogar post-dramatischen Welt. Die radikalsten Propheten verweisen das Theater als Ganzes bereits in den Bereich des Historisch-Musealen, während zugleich auf der Festivalbühne zeitgemäßes, real (noch) existierendes Theater gezeigt wird. Jetzt geht es darum, ob es im Theater überhaupt noch etwas zu sehen, oder zu entdecken gibt.

Beschimpft und gefeiert

Die Woyzeck-Inszenierung vom Theater Basel steht exemplarisch für diese Schnittstelle. In keiner anderen Aufführung verlassen nach einer Stunde so viele Zuschauer den Saal, aber am Ende erhält kaum eine so viel begeisterten Beifall. Ist Ulrich Rasches Bearbeitung des Büchner-Fragments, bei dem sich die Darsteller auf einer zwölf Meter großen hydraulischen Scheibe immerzu drehen, nun Zukunft oder Vergangenheit? Seelenloses Maschinentheater und technische Leistungsschau oder ein innovatives Gesamtkunstwerk aus Sprache, Choreographie und Musik? Auf jeden Fall nichts für romantische Glotzer. Ulrich Rasche sieht sich gegensätzlichen Vorwürfen ausgesetzt: zu wenig Avantgarde oder zu viel davon.

Dass die Avantgarde von gestern die Klassik von heute ist, zeigt nicht nur Frank Castorf mit seinem ausladenden „Faust“, sondern auch Elfriede Jelinek. Ihr sich an US-Präsident Trump abarbeitendes Agitproptheater „Am Königsweg“ vom Schauspielhaus Hamburg gibt sich von der Thematik her aktueller als andere Bühnenliteratur, greift in ihrer kalauernden Nummernrevue aber auf bewährte Mittel wie Improvisationstheater, Kabarett- und Songeinlagen zurück und scheut mit ihrer Trump-Ödipus-Analogie auch nicht die Anleihe beim antiken Theater. Ähnliche Wege geht das Schauspielhaus Zürich. In dem Euripides-Projekt „Beute Frauen Krieg“ gelingt es 3sat-Theaterpreisträgerin Karin Henkel, die Wucht der griechischen Tragödie zur Darstellung der zeitlosen Konflikte von Krieg und Geschlechterrollen zu nutzen.

Herausragende Darsteller

Fast programmatisch für dieses Theatertreffen, dass Christopher Rüping von den Münchner Kammerspielen die historische Uraufführung von „Trommeln in der Nacht“ zunächst zitiert, um dann aus den Kulissen von damals in die Theatergegenwart aufzubrechen. Theater als Prozess, so die Botschaft. Weniger Mühe mit der Komposition von Stilebenen gibt sich Regisseurin Anta Helena Recke, ebenfalls von den Münchner Kammerspielen. Sie kopiert Anna-Sophie Mahlers Inszenierung „Mittelreich“, die vor zwei Jahren beim Theatertreffen zu sehen war. Sämtliche Darsteller in Joseph Bierbichlers Geschichte um provinzielle Enge sind von schwarzer Hautfarbe. Sicher ein Verfremdungseffekt im Sinne Brechts, aber ein zu plumper Versuch, die Debatte um Rassismus auf der Bühne zu führen.

In einem Punkt durfte in Berlin allerdings romantisch geglotzt werden. Das Niveau der Schauspieler war in allen Aufführungen dazu angetan, große und begeisterte Augen zu machen. Allen voran Johann Meyerhoff in seinem dreistündigen Solo „Die Welt im Rücken“ vom Wiener Burgtheater oder Nina Hoss in „Rückkehr nach Reims“ von der Berliner Schaubühne. So lange solche Schauspieler auf der Bühne stehen, erübrigt sich die Frage nach der Zukunft des Theaters.

Bilanz des 55. Theatertreffens

  • Der Theaterpreis Berlin der Stiftung Preußische Seehandlung geht an Karin Henkel. Die Regisseurin wird für ihre außerordentlichen Verdienste um das deutschsprachige Theater ausgezeichnet. Der Preis ist mit 20 000 Euro dotiert.
  • Den 3sat-Preis für eine künstlerische innovative Leistung erhält die Schauspielerin Wiebke Puls von den Münchner Kammerspielen für ihre Rolle in Brechts „Trommeln der Nacht“. Der Preis ist mit 10 000 Euro dotiert.
  • Der Alfred-Kerr-Darstellerpreis für deutschsprachige Nachwuchsschauspieler und Nachwuchsschauspielerinnen geht an Benny Claessens für seine Rolle in Falk Richters Inszenierung „Am Königsweg“. Der Preis ist mit 5000 Euro dotiert. 

Freier Autor Wolfgang Bager ist freier Kulturjournalist und lebt in Berlin. Nach abgeschlossener Buchhandelslehre in Villingen-Schwenningen und Studium der Germanistik und Philosophie in Heidelberg (Magister) hat er beim Südkurier in Konstanz seine journalistische Ausbildung absolviert, war dort Redakteur in der Politikredaktion und von 1993 bis zu seinem Ruhestand 2015 Leiter der Kulturredaktion. Seit 2016 berichtet er als freier Journalist für den Mannheimer Morgen und den Südkurier Konstanz über kulturpolitische Themen aus Berlin.

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