Performance

Rampig zeigt loderndes "Märchen" an Mannheimer "lost place"

Das Theaterkollektiv Rampig zeigt „Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern“ im städtischen Leuchtmitteldepot auf der Friesenheimer Insel - für Menschen ab 16 Jahren. Und wie immer starken Tobak, aber guten

Von 
Ralf-Carl Langhals
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Zündholzproduktion in Hand- und Theaterarbeit. Tim Fischer in der ehemaligen städtischen Leuchtstoffanlage auf der Friesenheimer Insel. © Nikola Haubner

Es ist kalt. Mannheimer Straßenlaternen Jahrgang 1893 bis 1979 werfen dazu verlegen dekorativ kaltes Licht auf die Außenmauer des städtischen Leuchtmitteldepots auf der Friesenheimer Insel. In der Ferne glitzert industriell großstädtisch die Ölraffinerie. Nahezu verheißungsvoll. Dort sitzen sie, die Wärme und der Wohlstand. Es gibt in dieser Stadt keinen besseren Ort für eine Performance-Installation als diesen, geht es doch in der neuen Arbeit des Mannheimer Theaterkollektivs Rampig um Licht, Leben und Arbeit – und um all deren Kehrseiten: Schattendasein, soziale Kälte, dunkle Abgründe, finstere Machenschaften, Missbrauch und Ausbeutung.

Wer Arbeiten der Truppe von und um Regisseurin Beata Anna Schmutz kennt, weiß, dass solche Setzungen dort immer einen literarischen, psychologischen und soziologischen Grund haben. Einen guten und festen, diesmal einen nur vermeintlich märchenhaften: Hans Christian Andersens „Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern“ wird in einem über dreistündigen, pausenlosen Theaterabend motivisch zum Parcours-Theater, Stationenspiel und performativen Installationsrundgang – so viel Kunstchinesisch muss hier zur einordnenden Klärung des Geschehens schon sein.

Wie schon in „Das Schloss“ 2014 und „Strafkolonie“ 2018 zu Kafka oder zu Dostojewski 2015 mit „Schuld (und Sühne?)“ im aufgegebenen US-Supermarkt auf Franklin geistern Publikum und Darsteller auch diesmal durch „lost places“, wie man aufgegebene Gebäude mit morbidem Charme heute nennt. In losen Gruppen wird das Publikum durch die stillgelegte Werkstatt-Immobilie geleitet.

Rotkäppchen in der Hölle

„Komm!“ raunt einem hier und da ein Mädchen, eine junge Frau zwischen Rotkäppchen, Lolita und Wasserleiche gruselig zu. Wir folgen und landen im katholischen „limbus infantum“, der Hölle ungetaufter Kinder, wo wir die Grundzüge des Märchens um das Mädchen mit den Schwefelhölzern erfahren, das beim Betteln und Erfrieren in der Silvesternacht seine Hölzchen entzündet und in Visionen unter Flammenschein der toten Großmutter in die menschliche Wärme folgt. Die Großmutter begegnet uns noch häufig, jovial schunkelnd im geblümten Morgenrock oder als zornige Alte, je nachdem. Auch folgen wir Rotkäppchen und dem psychoanalytisch assoziierten Kinderschänder-Wolf. Den Sieben Zwergen schauen wir ins Bettchen – und beim kollektiven Zähneputzen mit Becherchen und Bürstchen zu. Hänsel und Gretel folgen wir Brotkrume für Brotkrume in den finstern Tann. Per exzellenter Video-Arbeit von Karolina Serafin oder in der natur-echten Waldkammer von Szenographin Sophie Lichtenberg – so nennt man Ausstatter/Bühnenbildner in diesem Gewerbe.

Ihre Detailfreude ist einmal mehr herzerwärmend. Im rot-weiß karierten Rustikal-Jäger-Chic gibt es weder Deckchen oder Läufer noch Bordüren und Vorhänge, an die sie nicht akribisch und liebevoll ausstattend Hand angelegt hätte.

Ein buchstäblich gutes Gespür für den Stoff hat auch Melanie Riester bei ihren Kostümen bewiesen. Sie setzt auf kindliche Kleidung in den Farben vergilbter Märchenbücher: Rot, weiß, hellblau, braun und beige sind ihre Kleider, Hauben, Mäntel und kurzen Hosen, deren Putzigkeitskolorit in dramaturgisch morbidem Kontrast zu den Schrecknissen der Szenerie steht.

Natürlich arbeitet auch Rampig bei aller Außergewöhnlichkeit mit kunsthistorischen Zitaten und Bezügen des Performance-Handwerks: Hermann Nitsch, Louise Bourgeois, Florentina Holzinger, Signa. Ein riesiges „Kunstmärchen“ – in dieses Genre gehört schließlich auch Andersens Original – ist geworden, was Schmutz mit ihrem Ausnahmedarstellungstrupp auf die nackten, frierenden Beine gestellt hat. Schonungslos schamlos agieren diese jungen Frauen und Männer – wie immer mit vollem Körpereinsatz – fast unangenehm nah am Publikum, in engen Zellen, stickigen Räumen, weiten Hallen, eisigen Treppenhäusern, zugigen Fluren, wasserdurchspülten Kantinen- oder Waschräumen. Nacktheit, Säfte wie Blut, Urin und Speichel – alles inklusive.

Anstrengung, die lohnt

Auf der Material-Ebene der fraglos zu ausführlich erzählten Zündholzproduktion (aus Antimonschwarz, Holz, Kaliumchlorat, Phosphor und Glaspulver) geht Rampig sozusagen mit den hier neun, nicht sieben Zwergen unter Tage, schuftet in Kinderarbeit mit bloßen Händen und lässt dabei noch die Schrecknisse einer Heidelberger Hexenverbrennung anno 1447 aufflammen. In Summe ist das (nicht nur der zeitlichen Länge wegen) anstrengend und fordernd. Nicht selten persönlich konfrontativ, streckenweise auch unangenehm nah und manchmal gar eklig. Und somit im eigentlichen Sinne pralles, zeitgenössisches Theater mit Hand und Fuß.

Am Schluss, wenn das Lagerfeuer züngelt, warme Suppe ausgegeben und die geschundenen Spielerinnen und Spieler heftig beklatscht werden, erklingt im Foyer, Achtung Humor, Alicia Keys’ „This Girl Is On Fire“ – für Beata Anna Schmutz trifft es zu. Möge Rampig uns noch lange Zunder geben.

Die Aufführungen

  • Es spielen: Christina Bauernfeind, Friedrich Byusa Blam, Tim Fischer, Malte Fischer, Liz Langenfelder, Sophie Lichtenberg, Karolina Lesna, Laura Neidhardt, Tabea Panizzi, Karolina Serafin, Luca Urbaczka und Ricarda Walter.
  • Der gut dreistündige Performance-Theater-Rundgang (ab 16 Jahren) findet im ehemaligen städtischen Leuchtmitteldepot, Ölhafenstraße 16, auf der Friesenheimer Insel Mannheim statt.
  • Weitere Aufführungen finden am 26., 29. und 30. November sowie am 1. und 2. Dezember statt, jeweils ab 20 Uhr. Karten gibt es online unter www.rampig.de

Redaktion Seit 2006 ist er Kulturredakteur beim Mannheimer Morgen, zuständig für die Bereiche Schauspiel, Tanz und Performance.

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