Linguisten am Puls der Zeit: „Sprache und Gewalt“ war das Thema einer virtuellen Podiumsdiskussion des Mannheimer Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache (IDS). Dessen Direktor Henning Lobin hatte vier Diskutanten eingeladen, die nicht nur kompetent, sondern wie Renate Künast auch aus eigener Erfahrung über sprachliche Aggression oder Cybermobbing berichten konnten.
Die Grünen-Politikerin wehrt sich seit Jahren erfolgreich gegen Beleidigungen in den sozialen Medien - obwohl ihr 2019 das Berliner Landgericht in erster Instanz attestiert hatte, Politiker müssten so etwas aushalten. Die Wucht und Unvergänglichkeit von Drohungen, Diffamierungen und Verleumdungen im Netz werde massiv unterschätzt. Auch von der Justiz, so Künast. Sie berichtete von ihren Erfahrungen, etwa über „bühnenreife Dialoge“ als sie Beleidigern Hausbesuche abstattete. Als „große Gefahr für unsere Gesellschaft“ sieht Künast den orchestrierten Einsatz von sprachlicher Gewalt durch Rechtsextreme, die auch antifeministisch agierten.
Kunst als Kampfplatz
Christian Holtzhauer, Schauspielintendant am Nationaltheater (NTM), wurde von Lobin mit aktuellen Schlagzeilen eingeführt: Etwa über Holtzhauers umstrittene Unterstützung der „Initiative GG 5.3 Weltoffenheit“, die Mitglieder der israelkritischen, von manchen als antisemitisch eingestuften Boykottbewegung BDS nicht vom Kulturbetrieb aussperren will. Oder über die scharfe Debatte im jüngsten Mannheimer Kulturausschuss um das Engagement des NTM in der Corona-Krise. „Als Theatermann bin ich ganz andere Konflikte gewohnt“, sagte Holtzhauer. Er glaube aber, dass die im Theater übliche „leibliche Kopräsenz tatsächlich mäßigend wirkt“. Dass die Ausschusssitzung virtuell ablief, könne den Ton verschärft haben. „Aber es war gut, dass es geknallt hat.“ Holtzhauer gab zu bedenken, dass Aggression kanalisiert werden müsse und auch schon in antiken Texten eine Rolle spiele. Sprache und Kunst seien heute ein Kampfplatz, wie man an der Kulturpolitik der AfD sehe. Das Dilemma des Theaters: „Wir müssen Wirklichkeit abbilden, in der es Gewalt und Rassismus gibt, das N- und das Z-Wort verwendet werden. Trotzdem überlegen wir uns, ob wir das unreflektiert reproduzieren sollen.“
Kritik an Medien
Die frühere Mannheimer Professorin Konstanze Marx (Uni Greifswald) brachte die (neuro-)linguistische Perspektive in die Debatte, der Bochumer Christian Gudehus sozialpsychologische Aspekte. Als Ursache für verstärkt wahrgenommene sprachliche Gewalt wurde weniger Anonymität im Netz ausgemacht: „Viele mobben unter Klarnamen“, so Marx. Vielmehr problematisierten die Diskutanten die zunehmend unterschiedliche Wahrnehmung der Wirklichkeit und das Tempo digitaler Kommunikation. Marx und Künast kritisierten hier auch die klassischen Medien. Sie würden einzelne Stimmungen überbetonen und in Konkurrenz mit den sozialen Medien treten, statt ihrer eigentlichen Aufgabe nachzukommen: einordnen, Hintergründe aufzeigen, kommentieren, sagte Marx.
In die Zukunft wies Lobins Schlussfrage: Wie kann die Gesellschaft trotz alldem wieder zu mehr Gemeinsamkeit finden? Marx riet dazu, den in sozialen Medien extremen Fokus auf maximale Aufmerksamkeit zu nutzen: „Wir sollten unsere Aufmerksamkeit entsprechend ausrichten. Das muss in die Schulen und in die Lehrpläne.“
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