Frankfurt. Mit Nadel und schwarzem Faden, also zwei typisch weiblichen Attributen, näht sie sich seit mehr als 50 Jahren durch ihre Biografie, die zugleich die Biografie von vier Generationen ist. Denn Annegret Soltau bezieht auch Großmutter, Mutter und Tochter ein, erweiterte das später um Mann und Sohn. Soltau ist also auf der Suche nach dem eigenen Ich, dem sie in der Familie nachspürt. Zwar waren bei den Feministinnen in den 1970er Jahren die Familie und das Kinderkriegen verpönt. Aber die in Darmstadt lebende Künstlerin ließ sich davon nicht beirren und orientierte sich immer am eigenen Leben. Heute gilt sie als wichtige Vertreterin der frühen Body-Art
„Ihr Leben ist ihr Material, ihr Archiv, aus dem sie schöpft“, sagt Svenja Grosser, die Leiterin der Gegenwartskunst im Frankfurter Städel, über Soltau, die Anfang nächsten Jahres 80 Jahre alt wird. Das Städel ehrt sie schon im Vorfeld mit einer Übersichtsschau von mehr als 80 Werken aus fünf Jahrzehnten geradlinigen Schaffens gegen viele Widerstände. Die Schau verspricht im Titel „Unzensiert“, dass auch umstrittene Werke zu sehen sind, wurden doch Soltaus Bilder oft abgehängt oder verdeckt. Der liberale Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld etwa kippte 1994 sogar eine Bilderserie für ein geplantes Buch.
Tabubrüche und künstlerische Grenzüberschreitungen im Fokus
Weshalb? Die Künstlerin rührt wohl an zu viele Tabus. Sie zeigt nackte Frauen mit deformierten Körperteilen. Und sie zeigt alternde Frauen, deren Körper naturgemäß nicht mehr makellos sind. Diese Porträt- und Aktfotos gehen unter die Haut und lassen manche auch aus der Haut fahren. Die Bilder sind eigentlich Fotoschnipsel, die Soltau mit Nadel und Faden neu zusammenfügt, oft sehr gewagt. Die Risse, Einstiche und Fäden sind deutlich zu sehen, zudem vertauscht Soltau bei diesen scheinbar brutalen Eingriffen auch die Körperteile. Ihre Ich-Suche ist also geprägt von verletzten Gesichtern und Körpern.
Die 1993 begonnene „Generativ“-Serie mit Großmutter, Mutter, Künstlerin und Tochter ist besonders wichtig, da sie oft Anstoß erregte. Die vier Frauen sind nackt, aber die schlaffen Brüste der Urgroßmutter hat jetzt die Enkelin, dafür hat die alte Dame ein faltenfreies Gesicht. Für Soltau trägt jeder junge Körper einen Teil des alten Körpers in sich, jeder alte Körper hat einen jungen Teil in sich. Diese und andere zentrale Bilder sieht der Besucher gleich im ersten Raum, bevor das Werk chronologisch gezeigt wird. Denn Soltau versteht sich nicht als Fotokünstlerin, sie kommt vom Zeichnen und Radieren her, das sie sich an der Kunsthochschule selbst beigebracht hatte, da in den bewegten 60er-Jahren mehr politisiert als gelehrt wurde.
Der schwarze Faden als künstlerisches Leitmotiv
In den frühen Radierungen der 70er Jahre zerkratzte sie ihr Abbild mit der Nadel immer weiter, bis alles schwarz war. Folglich handelt es sich oft um Originale, viele von ihnen kommen direkt aus Soltaus Atelier. Die Zeichnungen indes zeigen von Linien umhüllte Menschen, die Fotos zeigen von Fäden umwickelte Gesichter. Doch diese zart-fragile Ästhetik kippte um, als Soltau schonungslos in die Körper hineinschnitt. Ihr geht es um Schwangerschaft und Mutterdasein, um den weiblichen Körper und dessen Alterungsprozess.
Annegret Soltau
- Annegret Soltau ist keine Selbstdarstellerin , es gibt keine Maskerade und keine Rollenspiele. „Es geht nicht darum, mich selbst zu zeigen, sondern eher andersherum: Wenn ich etwas umsetzen wollte, musste ich mich dafür selbst zur Verfügung stellen“. So nutzt sie meist ihren eigenen Körper, da er ständig verfügbar ist, anders als bei einem Modell. Zudem kann sie bei ihren schonungslosen Bildern mit sich selbst „am weitesten gehen“, wie sie sagt.
- Städel, Frankfurt, Schaumainkai 63, bis 17. August. Di bis So 10-18, Do 10-21 Uhr. Katalog 39.90 Euro. Tel.: 069/60 50 980. Internetadresse: www.staedelmuseum.d
So zieht sich der schwarze Faden strikt durch ihr Werk, erst in zeichnerischer Form, dann als Garn durch die Porträts. Soltau seziert die Gesichter und Körper nicht fein säuberlich wie ein Chirurg, sondern zerreißt sie grob, um sie wieder anders zusammenzusetzen. Glücklicherweise zeigt das Städel auch die Bildrückseiten mit ihren Flicken und Fäden. Diese Fotos sind schön und hässlich zugleich, sie schockieren und provozieren. Doch mit der neuen Prüderie der heutigen Zeit scheint wieder der alte Spruch aktuell zu sein, dass das Private auch politisch ist – bei Soltau fließen Kunst und Privatleben ineinander.
Künstlerische Suche nach familiärer Identität und Verlust
Bis heute sucht sie nach ihrem Vater, der wohl im Zweiten Weltkrieg gestorben ist. Für die Suche schnitt sie ihr eigenes Porträt aus und fügte Briefe vom Roten Kreuz, Landkarten und Bilder von Soldaten auf Panzern ein. Noch weiter geht ihre 2003 begonnene Serie „Personal Identity“, bei der sie auch ihr Porträt entfernt und dafür ihre Geburtsurkunde, den Mutterpass oder eine Bankkarte einfügt. Das Ende dieser Serie soll die Tochter nach dem Tod der Künstlerin ausführen und in ein entkerntes Foto die Sterbeurkunde einfügen. So schließt sich der Kreis von Soltaus amtlich dokumentierter Identitätssuche.
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