Zwischen Ausstellung und Theater bewegen sich die Besucherinnen und Besucher bei „Urban Nature“, einer Produktion der Künstlergruppe Rimini Protokoll, die im kommenden Juli in der Mannheimer Kunsthalle eröffnet wird. Kunsthalle und Nationaltheater (NTM) sind Koproduktionspartners des partizipativen Formats, über das wir mit Museumsdirektor Johan Holten und NTM-Schauspielintendant Christian Holtzhauer sprachen.
Herr Holten, Herr Holtzhauer, was können wir uns unter „Urban Nature“ vorstellen? Nach Eigenbeschreibung von Rimini Protokoll ist es „eine Installation, die sich in Museumsräume einfügt und Simulationen unterschiedlichster urbaner Räume zu einem Set versammelt.“
Johan Holten: Es geht um ein Verständnis, wie Städte funktionieren. Rimini Protokoll nutzen dieses Format, um eine Art Porträt von unterschiedlichen ökonomischen Subsystemen in einer Stadt zu zeigen, und über ausgewählte Protagonisten zu erzählen, wie diese zusammenwirken. Es sind sieben Stationen, die man als Betrachter nacheinander ablaufen wird. Es ist keine Performance, bei der man sich hinsetzt und etwas passiv wahrnimmt. Man bewegt sich durch diese Landschaft der unterschiedlichen Stationen, aber nicht frei, sondern eher in einem Rhythmus, den die Installation einem vorgibt. Das ist natürlich für eine Ausstellung etwas Ungewöhnliches, und das ist ganz klar das theatrale Element, dass ich als Betrachter mich auf diesen Rhythmus einlassen und auf den vorgefertigten Pfad der Installation begeben muss.
- Rimini Protokoll ist ein Autoren-Regie-Team und wurde im Jahr 2000 von Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel ins Leben gerufen. Seit 2003 befindet sich das Produktionsbüro in Berlin.
- Weltpremiere von „Urban Nature“ war im Centre de Cultura Contemporània de Barcelona (CCCB), wo die Produktion von CCCB und Rimini Apparat in Koproduktion mit der Kunsthalle und dem Nationaltheater Mannheim sowie dem Grec Festival de Barcelona von Anfang Juli bis Mitte September dieses Jahres präsentiert wurde.
- In Mannheim soll „Urban Nature“ am 14. Juli 2022 in der Kunsthalle eröffnet werden und von 15. Juli bis 16. Oktober auf der gesamten Ausstellungsfläche im Erdgeschoss stattfinden – auf über 1000 Quadratmetern.
Christian Holtzhauer: Den Begriff „Set“ kann man ganz verschieden interpretieren. Das kann einmal eine bewusst gestaltete Zusammenstellung oder Ausstellung von Dingen sein, aber „Set“ steht im Englischen auch für das Bühnenbild oder das Filmset. Und so würde ich, was Rimini Protokoll vorhaben, auch verstehen - an der Schnittstelle zwischen Ausstellung und Theater oder eine Art begehbares Bühnenbild. So, wie sich ja auch die verschiedenen Räume in der Stadt als Bühnen begreifen lassen, auf denen sich das Leben abspielt. In den von Rimini Protokoll entworfenen Räumen lerne ich Menschen kennen, die ein und dieselbe Stadt auf ganz unterschiedliche Weise nutzen und bewohnen und aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln auf „ihre“ Stadt blicken. Natürlich gibt es unglaublich viele verschiedene solcher Blickwinkel, aber ich glaube, die sieben in „Urban Nature“ versammelten sind prototypisch ausgewählt.
Nach welchen Gesichtspunkten?
Holtzhauer: Der Ausgangspunkt dieses Projekts ist die Beobachtung des radikalen Wandels, der sich weltweit in unseren Städten gerade vollzieht. Industrieproduktion und Wohnen sind entkoppelt, heute treffen wir in den Innenstädten überwiegend die Dienstleister oder die „Arbeiter des Geistes“. Städte sind auch, hat man manchmal den Eindruck, nicht unbedingt zum Wohnen da, sondern vor allem Geldanlageobjekte. Da prallen also ganz verschiedene Bedürfnisse und Interessen aufeinander - und müssen miteinander auskommen.
Mit Blick auf besagte Protagonisten - ist „Urban Nature“ also auch ein Recherche-Projekt mit „Experten des Alltags“, wie man sie von anderen Rimini-Protokoll-Arbeiten kennt?
Holten: Ja, die sind auf die gleiche Art und Weise wie sonst auch ausgesucht, interviewt und ihre Geschichten sozusagen herauskristallisiert worden. Hier sind sie natürlich nicht selbst vor Ort, sondern man trifft innerhalb der technischen Systeme der Bildschirme und Tablets, die man in der Hand hält und mit denen man herumgeführt wird, auf die jeweiligen Experten und deren Geschichten. Und dann kreuzt das Subsystem des einen das des anderen. Und deshalb ist es auch ein bisschen so, wie die Stadt als einen großen Ameisenhaufen zu betrachten: Jeder geht seinen eigenen Weg, aber aus dem Zusammenwirken entsteht erst das, was Stadtleben genannt werden kann. Ob „Experten des Alltags“ da aber noch der richtige Begriff ist, darüber kann man streiten.
Holtzhauer: Ich würde eher sagen „Experten für das Leben in der Stadt“ oder „Experten des Urbanen“ - da gehört der Stadtplaner genauso dazu wie der Fußgänger, der sich durch den Stadtraum bewegt, zufällig Zeuge von bestimmten Ereignissen wird. Und ich als Zuschauer schlüpfe in deren Rolle, wenn ich mit ihnen auf dem Bildschirm durch die Ausstellung gehe.
Kunsthalle und Nationaltheater sind Koproduktionspartner von „Urban Natur“ - warum suchen Sie die Zusammenarbeit?
Holtzhauer: Weil wir zusammen stärker sind! Die Zeiten, in denen jeder nur auf die eigene Institution geschaut hat, sind vorbei. Es geht letztlich darum, dass wir ein attraktives Angebot für diese Stadt zusammenstellen. Wenn wir zusammenarbeiten, können wir Projekte realisieren, die niemand hier allein stemmen kann. Und dafür bündeln wir die Kräfte, wie bei verschiedenen Anlässen in der Vergangenheit auch.
Dabei geht nicht nur um finanzielle Mittel, sondern auch um technisches Knowhow und Ressourcen?
Holtzhauer: Ja, Geld, Technik, Personal, alles Mögliche, bis hin, dass ich davon ausgehe, dass die Texte, die dann eingesprochen werden müssen, von unseren Schauspieler*innen eingesprochen werden. Beim Rahmenprogramm, das entwickelt werden soll, werden wir uns auch abstimmen und versuchen, das gemeinsam zu konzipieren.
Holten: Wir gehen jetzt daran, wie wir parallel zu den Geschichten, die die sieben Experten erzählen, Geschichten in Mannheim finden können, um damit das Projekt sozusagen hier anzudocken. Es ist uns wichtig, das Rahmenprogramm breit zu denken und nicht nur zu sagen, „Da machen wir einen Vortrag von jemanden“, sondern Gruppierung in Mannheim zu finden und sie nach ihren Vorstellungen zu fragen, hier zu ergänzen und Programmpunkte zu machen. Gerade auch mit dieser Ausstellung wollen wir die Stadtgesellschaft wirklich vernetzen.
Holtzhauer: Insofern ist es nur folgerichtig, dass „Urban Nature“ nach Barcelona auch hier in Mannheim stattfindet. Das Projekt adressiert genau die Fragen, die mit den 17 Sustainable Development Goals (Nachhaltigkeitszielen) der UNO verknüpft sind, deren Umsetzung sich auch Mannheim verschrieben hat. Ich habe bisher kaum eine Stadt in Deutschland erlebt, wo so intensiv und so umfassend über das Thema Stadtentwicklung nachgedacht wird - und gerade über die Rolle der Kultur bei der Stadtentwicklung -, wie in Mannheim.
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