Pop - Der australische Sänger Nick Cave gibt bei einem Gesprächskonzert im Baden-Badener Festspielhaus tiefe Einblicke in sein Seelenleben

Nick Cave in Baden-Baden: Ein Abend wie eine exzellente Autobiografie

Von 
Jörg-Peter Klotz
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Vor Jahren noch undenkbar: Alternative-Rock-Ikone Nick Cave (vorne) gibt weltweit in Theatern Solokonzerte am Piano und beantwortet dabei dutzendweise Fanfragen – egal, wie intim sie sind. Bei „Conversations With Nick Cave“ im Baden-Badener-Festspielhaus waren keine Fotografen zugelassen. Das Bild zeigt den Auftritt des Australiers vor Jahresfrist im Sydney Opera House. © Daniel Boud

Dieser Abend fühlt sich an, als ob ein schwarzes Einhorn aus mystischem Nebel tritt und seine Welt erklärt. Genau so realitätsfern wie eine solche Erscheinung war bis zum Sommer 2015 die Vorstellung, dass Nick Cave, die düstere Ikone des poetischen Alternative Rock, einmal weltweit Solokonzerte mit Besuchern auf der Bühne geben und dabei spontan Fragen von Fans beantworten würde. Aber im Juli 2015 stellt der Unfalltod seines 15-jährigen Sohnes Arthur das Leben dieser unberührbar erscheinenden Songwriter-Legende auf den Kopf.

Genau darum geht es bei den Gesprächskonzerten mit dem Titel „Conversations With Nick Cave“ immer wieder. Das Spektakuläre dabei: Cave führt bei den Konversationen am Montagabend im Festspielhaus Baden-Baden eindrucksvoll vor, dass auch ein so dramatischer, extrem schmerzvoller Verlust etwas Tröstliches, weil zutiefst Verbindendes haben kann.

Hundertprozentig wohl ist ihm dabei nicht in seiner Haut. Tatsächlich glichen Caves Konzerte lange regelrechten Schlachten mit dem Publikum. Das alles war für ihn angstbesetzt, „terrifying“, wie er in Baden-Baden zugibt. Selbst in diesem Rahmen, allein am Klavier, springt er nach jedem, extrem intensiv interpretierten Lied auf wie ein Boxer in den Ring. Fängt sich aber auf dem Weg zum Bühnenrand und hält Ausschau nach dem nächsten Fragesteller. Es ist surreal, aber faszinierend.

Der Schrecken von Konzerten und wohl auch das Lampenfieber verschwinden nach dem Tod des Sohnes. Wie es etwa 2017 in der Frankfurter Jahrhunderhalle zu bestaunen war (wie berichtet), konnte (und wollte) er sich in die Zuneigung des Publikums regelrecht fallenlassen – das führte zu beeindruckenden Momenten der Katharsis für alle Beteiligten. Ein wenig vergleichbar mit den „Mensch“-Tourneen Herbert Grönemeyers nach dem Verlust seiner Frau und seines Bruders.

Auftritte wie Therapie

Aber der Schrecken sei bei diesen Gesprächskonzerten wieder da, bekennt Cave gegen Ende des Abends. An dem er immer wieder halb im Scherz zurückzuckt, wenn sich einer der Fragesteller aus aller Welt als Psychotherapeut zu erkennen gibt. Trotzdem bekennt der 62-Jährige auf Nachfrage, dass ihm speziell diese Auftritte sehr geholfen hätten; genau wie Konzerte sowie die Konzentration auf seine Frau und die verbliebenen Kinder.

Aus den Antworten auf mehrere Zuschauerfragen lässt sich eine Art Philosophie „kollektiven Leidens“ zusammensetzen, der zu folge Cave Schmerz und Verlust als „DNA unserer Zivilisation“ ausmacht, „die uns alle verbindet“. Wir hätten zwar nahezu keine Sprache, um Trauer angemessen zu behandeln, trotzdem spüre man im Austausch eine extreme Verbindung zu anderen Menschen. So sei es ihm ergangen, als ihm nach seinem Verlust Tausende von Menschen ihre eigenen Schicksalsschläge geschildert hätten. Oder pure Empathie. Die habe ihm zum Beispiel eines seiner größten Idole übermittelt, obwohl sie sich nie kennengelernt hatten: Leonard Cohen schrieb ihm per Mail nur einen Satz: „Brother, I’m with You“ (Bruder, ich bin bei Dir). Ähnlich tiefschürfend gibt Cave Einblicke in seine Sucht- und Abstinenzgeschichte sowie die unermessliche Bedeutung von Lyrik und Religion für seine Arbeit als Texter. Obwohl er gar nicht wisse, ob es einen Gott gibt. Ein Abend wie eine exzellente Autobiografie.

Am verblüffendsten ist, wie sensibel dieser feinnervige Poet, den man sich kaum im Sonnenlicht vorstellen kann, auf fast alle Fragen reagiert: Selbst als eine junge Russin ihn erschreckend plump einlädt, auf ihrer Hochzeit zu singen, antwortet er mit relativ mildem Sarkasmus, jedenfalls nicht so, dass sie gleich zu Staub zerfällt: „Ich bin keine verdammte Karaoke-Maschine.“ Wenn schon Karaoke, dann nur mit Elvis-Songs: „Ich liebe ihn. Alles, was ich immer sein wollte, ist Elvis. Dann hat es nur zu Nick Cave gereicht.“

Sogar eine Frage nach Meghan und Harrys Abgang aus dem britischen Königshaus ist dem Australier nicht zuviel. Er stellt zwar klar, dass es andere Dinge gebe, die ihn mehr bewegten – zumal zurzeit sein halber Kontinent abbrenne. Aber er offenbart immerhin, dass er die Queen liebe – wie und irgendwie für seine gleich alte Mutter, wegen ihres Stoizismus und ihrer Würde. Nur als ein offenbar Betrunkener die in dieser Konstellation denkbar dümmste Frage in den Saal brüllt („Bist Du Vater?“), stutzt Cave kurz und brüllt zurück „Hell yeah, I am!“ (Zur Hölle ja, das bin ich!).

Primär Vater und Ehemann

Trivial gesehen stimmt das, auch weil er noch andere Kinder hat. Substanzieller betrachtet, und Cave vermittelt nicht den Eindruck, als ob er irgendetwas oberflächlich betrachten könnte, stimmt es wie nie zuvor in seinem Leben. Das habe sich – typisch Künstler – früher ausschließlich um das Schreiben von Songs gedreht: „Heute ist meine primäre Funktion die des Vaters und Ehemanns, der Songs schreibt. Vorher war ich ein Songwriter, der verheiratet ist und Kinder hat.“ Diese Akzentverschiebung, für Nick Cave dürfte es eher eine Kontinentalverschiebung sein, habe auch die Art verändert, wie er schreibt, aber nicht die Art der Hingabe. Wer seine epochalen jüngsten Alben „Skeleton Tree“ (2016) und „Ghosteen“ (2019) kennt, weiß genau, wovon er spricht. Und wie würdevoll, intensiv und hilfreich man Trauer durch Kunst verarbeiten, verarbeitbar machen kann.

Australischer Superstar

  • Nicholas Edward Cave wird am 22. September 1957 in Warracknabeal, Australien, geboren.
  • Mit der Postpunk-Band The Birthday Party erlebt er 1980 in London den Durchbruch. 1983 zieht Cave nach West-Berlin und gründet The Bad Seeds, zu der lange Blixa Bargeld (Einstürzende Neubauten) als Gitarrist zählte.
  • Zu einem seiner größten Erfolge wird 1996 das Album „Murder Ballads“ mit dem Kylie-Minogue-Duett „Where The Wild Roses Grow“.

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