Mannheim. In seinem grandiosen letzten Roman „Lektionen“ hatte der Londoner Schriftsteller Ian McEwan den irischen Lyriker und Nobelpreisträger Seamus Heaney zitiert: „Pflicht eines Schriftstellers sei es, sich an den Schreibtisch zu setzen und sitzen zu bleiben.“ Diesem Arbeitsethos folgt McEwan als aktuell wohl wichtigster britischer Prosaautor ganz unbedingt und legt mit „Was wir wissen können“ einen wieder umfangreichen Roman vor. Auch Seamus Heaney wird darin erneut eine Rolle spielen, wenn auch nur als Vergleichsgröße, mit der sein fiktiver Zeitgenosse Francis Blundy gern in einem Atemzug genannt wird.
Das unauffindbare Meisterwerk bleibt dem Publikum verborgen
Um die abenteuerlich verworrene Geschichte von Blundys „Sonettenkranz für Vivian“ kreist der Zeitepochen überspannende, weit ausholende Roman. Einmal nur hat der Dichter diesen aus Anlass des 54. Geburtstages seiner zweiten Gattin Vivian im Oktober 2014 geschriebenen Zyklus öffentlich vorgetragen. Vierzehn Gedichte, die gebaut sein müssen nach genauen Regeln, ohne unter ihnen ächzen zu dürfen, dazu ein finales fünfzehntes, das aus den jeweils ersten Zeilen der vorangegangenen besteht.
So ein Vortrag von insgesamt 210 miteinander verwobenen Versen erfordert ein aufmerksames Publikum. Doch hatte nach Alkoholgenuss zum guten Essen eine solche Aufmerksamkeit ihre Grenzen. Da kann man es schon verstehen, wenn eine Vielzahl der Gäste dieses „unsterblichen Abendessens“ ermüdet den Faden verliert. Einen deprimiert sogar „diese kulturelle Schwere, ihre Feierlichkeit und Selbstgefälligkeit“. Schwierig für die Anwesenden, hinterher zu diesem ausgreifenden Fest-Killer-Gedicht etwas Angemessenes zu sagen, über den Applaus und die Vergleiche mit Eliot und Heaney hinaus.
Nachlesen wird den Text niemand können, weil sich Autor und Adressatin darin einig wissen, dass eine Veröffentlichung ihre Intimität schmälern würde. Erst wenn der Text alle Verbindungen zu seiner Zweckgebundenheit abgestreift haben würde, wäre ihm die Bewunderung vieler folgender Generationen gewiss. Also erstmal weg damit und hin zu einer konservierenden Archivierung. So vergingen gut hundert Jahre mit Gerüchten um das Gespenst eines Gedichts.
Eine Entdeckung, die alles verändern könnte
Thomas Metcalfe gehört zu so einer folgenden Generation. Er glaubt fest an die Existenz des legendären Sonettenkranzes und bereitet im Jahr 2120 schon mal essayistisch dessen Entdeckung vor. Er zählt zur abnehmenden Truppe von Wissenschaftlern, die sich für die Vergangenheit interessieren, kann aber dieses Interesse mit seiner zehn Jahre jüngeren Kollegin Rose teilen, in die er sich natürlich auch deswegen verlieben wird.
Ansonsten spielt ihre gemeinsame Zukunft leicht ins Dystopische. Wegen der weltweiten Überflutung ist die Hauptbibliothek der Universität Oxford in die Berge von Nordwales verlegt worden. In ihr ist kaum noch Papier zu finden. Doch die Dateien bis tief hinein in die Privatsphären der Vergangenheit sind archiviert: Surfgewohnheiten, E-Mails, SMS, Spams … nur keine gedankenschweren Reflexionen mehr in Brief- oder Buchform. Pandemien und Ressourcenkriege, Artensterben und die Übersäuerung der Meere haben Spuren hinterlassen, die Weltmacht heißt Nigeria, Deutschland ist ein Teil von Großrussland, die durchschnittliche Lebenserwartung sank auf 62, die Leute verreisen nicht mehr und leben auf zumeist kleinen Inseln. Immerhin gibt es keine globalen Kriege, ein Indiz dafür, dass nicht alle vollkommen verrückt geworden sind.
Thomas und Rose sind frustriert, weil die Studenten kein Interesse mehr an historischen Forschungen haben und nach den Semesterferien höchstens ein Teil die aufgetragenen 96 Lektüreseiten vollständig geschafft hat. Da machen die beiden eine Entdeckung, die sie zu einer folgenreichen Expedition animieren wird. „Lehre uns, Sorge zu tragen und uns nicht zu sehr zu sorgen“, heißt ihre T. S. Eliot entlehnte Maxime für unterwegs.
Ein überambitionierter Roman mit vielen Schwächen
Sehr überraschend entwickelt sich nun ein mysteriöser Fall, dem die beiden Forscher auf die Spur kommen. Irgendwie empfinden sie sich als Wiedergänger von Francis und Vivian. Die hatte ein zwölfbändiges Tagebuch geführt, in dem sie von ihrem Dienst am Genie ihres Mannes auf seinem Grundstück am Rande eines kleinen Tals im ländlichen Gloucestershire und von ihrer Selbstverleugnung spricht. Sie macht den Haushalt, er schreibt. Und beide tragen an einer Schuld. Doch leider gerät deren Herleitung gar zu simpel.
Das aber ist nur eine Crux dieses zu viel wollenden Romans. Die erfolgreiche Reise der Forscher aus der neuen Zeit gerät zu glatt und groschenromanhaft, überhaupt ähneln sich die beiden Epochen, zwischen denen der Zeittunnel gegraben ist, viel zu sehr. Dann wieder kann sich der Text nicht entscheiden zwischen Pathos und altväterlicher Belehrung. Wieso der ominöse Sonettenkranz zu einem Manifest der Umweltbewegung werden konnte, bleibt ebenso im Dunkeln wie sein konkreter Text, der nur in Andeutungen referiert wird.
„Wo es Menschen gibt, da ist auch ein Tatort“, hatte im vorigen Roman McEwans ein Polizist gewusst. Im aktuellen Buch wird dieser Gedanke aufgekocht in eine müde Krimihandlung, die den Umfang nicht rechtfertigt, weil sie an kaum einer Stelle wirklich spannend wird.
Zum Buch
Was wir wissen können. Roman. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Diogenes. 480 Seiten. 28 Euro.
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