Im Garten ihres sehr nah an einer Klippe gebauten Anwesens bei East Portlemouth in der südenglischen Grafschaft Devon wird sich Kate Bush dieser Tage möglicherweise die Gischt ins Gesicht pusten lassen und dabei sehr innig und sehr lange in sich hineinlächeln. Denn Bush, eine notorisch öffentlichkeitsmeidende und scheue Künstlerin, feiert dieser Tage einen extrem unerwarteten, aber alles andere als unwillkommenen Triumph: „Running Up That Hill“, 1985 von Kate Bush als erste Single ihres wohl besten Albums „Hounds Of Love“ veröffentlicht und seinerzeit bereits ein großer Erfolg, schickt sich an, 2022 zum größten Sommerhit des Jahres zu werden.
Im Vereinigten Königreich steht das Stück auf Platz Eins der Singlecharts, in vielen weiteren Ländern wie zum Beispiel Australien ebenfalls. In Deutschland und den USA platziert sich „Running Up That Hill“ aktuell auf Rang sechs. „Ich bin entzückt und überwältigt“, schreibt die 63 Jahre alte Künstlerin auf ihrer Webseite, „wie viel Unterstützung und Zuneigung mein Song empfängt. Alles passiert so schnell und wirkt auf mich wie eine Naturgewalt.“
Dass die meisten Kids vorher noch nie von Kate Bush gehört haben dürften, spielt keine Rolle
Nun, ganz so ist es freilich nicht. Den Naturgewalten mag Bushs Haus - in dem sie mit Ehemann und Gitarrist Danny McIntosh sowie dem gemeinsamen Sohn Albert, genannt Bertie, lebt - vor allem in den stürmischen Herbsten trotzen müssen. Ihr später Hit jedoch ist vor allem das Ergebnis einer exzellent funktionierenden Marketingstrategie. In den Ende Mai veröffentlichten Folgen der vierten Staffel der insbesondere bei jungen Menschen zwischen zehn und Ende 20 extrem populären Netflix-Serie „Stranger Things“ spielt „Running Up That Hill“ nämlich eine echte Paraderolle. Der Song, ohnehin wuchtig, gefühlvoll und mitreißend kämpferisch gesungen, ist das Lieblingslied der trauernden Figur Max, die Kraft und Trost findet, wenn sie ihn auf ihrem Walkman hört. Ganz offensichtlich identifiziert sich die Jugend der Welt mit diesem dramatischen, ein wenig alptraumhaften Epos und klickt es in riesiger Zahl auf ihren digitalen Endgeräten an. Allein Marktführer Spotify meldete vergangenen Monat 57 Millionen Streams, die Zahlen steigen weiter rasant.
Newsletter "Guten Morgen Mannheim!" - kostenlos registrieren
Dass die meisten Kids vorher noch nie von Kate Bush, der Wegbereiterin all der Björks, Alanis Morissettes und Tori Amos’, die nach ihr kamen, gehört haben dürften, spielt dabei keine Rolle. Es ist auch keineswegs verwerflich, selbst wenn manche älteren Kulturfreunde gerade motzen, dass ihnen Kate Bushs heilige Kunst durch die Teenie-Serie irgendwie kaputttrivialisiert würde. Klar, es kann gut sein, dass viele junge Menschen nicht einmal ahnen, wie alt das Lied in Wirklichkeit schon ist. Aber wenn schon. Die Musik der 1980er Jahre, beziehungsweise die Musik, die so klingt wie in den 1980er Jahren, feiert ja schon des längeren eine Renaissance. Die Songs angesagter Stars wie The Weeknd („Blinding Lights“) oder Post Malone lassen die Dekade ebenso aufleben wie die supererfolgreiche, seit 2016 laufende, Serie „Stranger Things“ selbst, die Anfang, Mitte der Achtziger spielt und an „E.T.“, „Stand By Me“ oder „Zurück in die Zukunft“ erinnert. Auch die als unkonventionell und eigensinnig geltende Kate Bush ist „Stranger Things“-Fan. Sonst hätte sie ihren Song wohl auch kaum für die Nutzung in der Serie freigegeben.
Songrechte liegen bei Sängerin
Selbstredend verdient sich die Engländerin gerade eine ganze Kiste voller goldener Nasen. Sie hat „Running Up That Hill“ allein geschrieben und getextet, die Songrechte liegen, so hat der Branchendienst „Music Business Worldwide“ recherchiert, bei ihr. Die Experten haben auch ausgerechnet, was Kate Bush gerade so einnimmt: Etwa 300 000 Euro pro Woche. Merke: Durch Streaming kann man sehr wohl reich oder noch reicher werden, man muss halt nur sehr, sehr häufig gestreamt werden. Dass Kate Bush, die 2011 zuletzt ein Album veröffentlichte und 2014 nach jahrzehntelanger Live-Abstinenz 22 Konzerte im Londoner „Hammersmith Odeon“ spielte (um anschließend wieder abzutauchen) nun wieder extrem allgegenwärtig ist, wird dem Geschäft auch nicht schaden.
Kein Song hat von der Veröffentlichung bis zum Erreichen des Chartgipfels jemals länger gebraucht
Kein Künstler und keine Künstlerin hatte in den UK-Charts jemals eine so lange Zeitspanne zwischen zwei Nummer-Eins-Hits wie Bush zwischen „Wuthering Heights“ (ihrem ersten, herrlich schrägen, Welterfolg mit 19) und „Running Up That Hill“. Kein Song hat von der Veröffentlichung bis zum Erreichen des Chartgipfels jemals länger gebraucht (37 Jahre), und keine Frau war in der Geschichte der britischen Singlecharts älter als die 63-jährige Kate Bush. Die bisherige Altersrekordhalterin Cher (zarte 52, als sie 1998 mit „Believe“ an der Spitze stand) gratulierte auch umgehend.
Auch ist „Running Up That Hill“ keineswegs der erste ältere Song, der durch das Internet oder ein filmisches Werk abrupt durch die Decke geht. Vor kurzem erst explodierten die Streaming-Zahlen für Nirvanas „Something In The Way“, nachdem der finale Song vom „Nevermind“-Album im Kinofilm „The Batman“ zum Einsatz kam. Und 2020 katapultierte ein TikTok-Video des Skateboard fahrenden und Cranberry-Saft trinkenden Nathan Apocada nicht nur den 43 Jahre alten Fleetwood-Mac-Klassiker „Dreams“ wieder ganz nach vorne - sondern animierte Mick Fleetwood gar zu einem eigenen TikTok-Clip. Und auch was die vierte „Stranger Things“-Staffel angeht, so ist die Weide der potentiellen Revival-Hits noch längst nicht abgegrast. „Pass The Dutchie“ von Musical Youth, „You Spin Me Round (Like A Record)“ von Dead Or Alive oder nicht zuletzt The Cramps mit ihrem Kultklassiker „I Was A Teenage Werewolf“ sollte man gerade unbedingt im Auge behalten.
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/kultur_artikel,-kultur-netflix-serie-haucht-altem-song-neues-leben-ein-_arid,1970925.html