Konzertkritik (mit Fotostrecke)

Neil Youngs Höhenflüge über den Rock-Olymp in Mannheim

Von 
Jörg-Peter Klotz
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Mannheim. Kurz nach Ende der Schillertage kann man frei nach den Worten des philosophischen Kopfs und Dichterfürsten fragen: „Was heißt und zu welchem Ende macht (beziehungsweise hört) man Rockmusik?" Vor allem dann, wenn ein wahrer Künstler wie Neil Young in der Mannheimer SAP Arena alle Antworten liefert. Der 73-Jährige führt spektakuläre zweieinhalb Stunden lang vor, dass Inspiration im Mittelpunkt stehen sollte. Also Kunst. Nicht Geld, nicht die Unterhaltung und das damit verbundene Abspulen möglichst vieler Hits unter dem Diktat einer auf die Millisekunde durchgetakteten Arena-Show.

Das ewige Karohemd

Die hat natürlich auch ihre Reize. Aber ein Neil Young liefert dazu den kompletten Gegenentwurf. Das geht schon beim Bühnen-Outfit los, das keines ist: ein graues Karohemd hängt tief über einer schwarzen Jeans und dem schwarzen T-Shirt, das für die Öko-Kampagne „Earth“ wirbt. Dazu Hut und T-Shirt. Die beiden Leinwände rechts und links der Bühne sollen wie Röhrenfernseher aussehen, ansonsten besteht die „Show“ aus einem riesigen angestrahlten Vorhang und einem Holzindianer - das heißt, beim 14. Lied „Harvest Moon“ ist so etwas wie ein Lichteffekt zu beobachten.

Mehr braucht es auch nicht, wenn die Musik das Spektakel liefert. Und da fegen Neil Young und vor allem seine Begleitband Promise Of The Real (POTR) auf Anhieb alle Zweifel weg, dass die auf Countryrock spezialisierten Jungspunde um den 31-jährigen Frontmann Lukas Nelson zu brav oder zu wenig hippiehaft für den Gitarrendonnergott aus Kanada sein könnten. Die Band bietet dem 73-Jährigen nicht nur ein ideales Podium, sondern kann auch alle improvisatorischen Höhenflüge mitgehen und befruchten - dazu bieten sie einen mehrstimmigen Background-Chor, der oft so perfekt und feinfühlig klingt, dass es die Lerchen in den Gärten von David Crosby, Stephen Stills und Graham Nash nicht besser könnten. Kein Wunder, schließlich haben sich der Sohn von Country-Legende Willie Nelson und der imposante Schlagzeuger Anthony LoGerfo 2008 bei einem Neil-Young-Konzert kennengelernt. Wobei Lukas’ jüngerer Bruder Micah als Gitarrist und am Klavier aus dem eindrucksvollen Quintett sogar noch ein wenig herausragt.

Nach einer scharfkantig startenden, letztlich gefälligen Version von „Mansion On The Hill” geht es getreu dem Motto „psychedelic Music in the air“ (psychedelische Musik liegt in der Luft) weiter: Die volltönende Version von „Love And Only Love” steigert sich in eine rauschhafte Jam-Improvisation, bei der die Gitarristen Lukas und Micah Nelson mit Bassist Corey McCormick wie junge Tiger auf dem Sprung auf alles reagieren, was der kochinspirierte Altmeister an Kreativität aus der Luft zu greifen scheint. Es entsteht ein regelrechter Soundwirbel, gefolgt von einer Art Vocoder-Einlage - grandios! Mehr als 20 Minuten sind gespielt, die Legende hat noch nicht einmal zwei Lieder durch genommen - Zeit und Raum verschwimmen vor lauter Experimentierfreude. Micah Nelson fällt auf die Knie, hämmert mit den Händen die Effektgeräte und zaubert so noch einmal neue Klangwelten. Dann kommen erst die letzte Strophe und noch einmal der Chorus mit betörendem Harmoniegesang! Mehr geht nicht!

Der tosende Applaus brandet wieder auf, als Young ein einfühlsames Intro zu „Words (Between The Lines Of Ages anstimmt und zeigt: Der 73-Jährige kann nicht nur Krach oder Folkie-Gezupfe, sondern auch Virtuosität. Und seine zur Brüchigkeit neigende Stimme ist voll auf der Höhe, wie sich bei „Winterlong“ zeigt. Der Chor seiner Mitmusiker ist jetzt so fein abgestimmt, dass selbst „Uhlalalas“ komplett unpeinlich über die Rampe kommen. Nur Bei bei „Bad Fog Of Lineliness” schaukelt der Gesang mächtig, nach einem Textsussetzer fängt der Meister noch mal an: „Ich habe das geschrieben, das muss ich besser hinbekommen - für Euch.” Die Panne macht der ansonsten gewohnt wortkarge Kanadier solo mit dem rein akustischen Klassiker „The Needle And The Damage Done“ und feinem Fingerpicking mehr als wett.

Donnern mit voller Kappelle

Eine Atempause: Schnell donnert es wieder mit voller Kapelle: Dabei ist „Over And Over“ ein braves Liebeslied, aber die vier Saiteninstrumentslisten rocken es im Kreis wie Crazy Horse, kurz vorm Abheben. Die Kunst der Mehrstimmigkeit wird in „Country Home“ mit einer Pfeifeinlage auf die Spitze getrieben. Eigentlich sind das für Neil-Young-Verhältnisse eher Liedchen als Songs, in diesem Kontext bekommen sie mitreißende Wucht. Nur beim harmoniesatten „Everybody Knows This Is Nowhere“ kommt etwas Country-Flair auf.

Der Jam im dann wieder episch ausgedehnten „Down By The River“ bekommt fast etwas Santana-haftes, nicht nur dank der Gitarren, sondern vor allem wenn Percussionist Tato Melgar durch das Soundgebirge dringt - sehr beseelt und variantenreich. Am Ende erwächst daraus eine kolossale Gesamtimprovisation, die regelrecht erhaben ist bis Lukas Nelson sie mit kernigen Südstaaten-Riffs sicher zu Boden bringt.

Das alles hat etwas hochgradig Klassisches: Der Spiritus Rector Neil Young stellt Rockmusik live in den Kontrapost, als wäre sie eine antike Statue. Wo auf der einen Seite ungezügelte Kreativität scheinbar Chaos hintrümmert, herrschen auf der anderen Seite plötzlich wie von Zauberhand pure Harmonie, rhythmische Ordnung, Wohlklang. Bestes Beispiel ist das langgezogene Intro zu „Cowgirl In The Sand“ - hier grüßen die Allman Brothers lassen grüßen, als sich der Jam zu immer neuen Höhepunkten aufschwingt. Man spürt es nur noch selten, aber hier überdeutlich: Die E-Gitarre kann immer noch der Primus inter Pares unter den Instrumenten sein - und ja!, minutenlange Soli machen Sinn. Danach trifft auch der Publikumschor genau den Ton, als es perfekt mit „Hello woman of my dreams” in die dritte Strophe einsetzt - dann fliegt die Band wieder, hoch über den den Rock-Olymp.

„How you’re doing out there?“ (Wie geht es euch da draußen?), fragt der Hauptdarsteller rhetorisch in die Runde und bedankt sich fürs Kommen: „Thanks for being here. We appreciate you.“ (Wir wissen euch zu schätzen). Dann zeigt er, dass er auch die Kunst der Einfachheit beherrscht, die sein Metier so zugänglich macht: Mit einem krachenden „Satisfiction“-Riff startet er in „Mr. Soul“ eine Mini-Einlage mit wunderbarem Haudrauf-Rock, zu dem das lange nicht gespielte „Prisoners Of Rock ’n‘ Roll“ gehört.

Zum Kontrastprogramm setzt der „Godfather of Grunge“ den Mundharmonikahalter auf und begrüßt mit sanfter Stimme „my girlfriend“. Gemeint ist wohl Hollywood-Star Daryl Hannah, die ihn im August 2018 geheiratet haben soll. Es folgt eine betörende Version der Country-Liebesballade „Harvest Moon“ an - nicht, bevor er nach dem Riss einer Seite akribisch die Ersatzgitarre gestimmt hat. Für so viel Souveränität gibt es Szenenapplaus. Dann dafür, dass POTR im Hintergrund klingen wie ein steinerweichend sensibler Mädchenchor. Ganz zart wird auch „Human Highway“ in Szene gesetzt. Und bei „Long May You Run“ herrscht dann allgemeine Folk- und Hippie-Seligkeit.

Nach einer winzigen Pause kann man den knackigen Bluesrocker „Are You Ready For The Country“ mit Young am Klavier als erste Zugabe interpretieren. Gefolgt von den fast Metal-Konzertreifen Klassikern „Hey Hey, My My (Into The Black)“ und „Rockin’ In The Free World“. Bei Letzterem zieht Lukas Nelson einen Fahrradhelm auf - er weiß genau, wie steil es jetzt abgeht. Mit enormem Druck und immer noch einer neuen Wendung und Stilkapriole wird auch diese eigentlich simple Mitsingnummer zu einem Fanal der Expressivität - und klingt noch politischer in Zeiten, wo die „freie Welt“ immer mehr zusammenschrumpft. Und dann noch ein Crescendo, und noch Refrain, und ein paar Gitarrenduelle obendrauf .- die beseelt wirkenden Musiker scheinen kein Ende finden zu wollen. Mit einem anderen Weimarer Dichterfürsten namens Goethe möchte man diesem Augenblick euphorisch zubrüllen „Verweile doch, du bist so schön!“ Auf Neuhochdeutsch heißt das „Zugabe, Zugabe! - und zeigt Wirkung. Zum ersten Mal auf dieser Tournee spielt Young ein 20. Stück, das punkige „Fuckin’ Up“ aus seiner Grunge-Phase. Wie er dann unter nicht enden wollendem Applaus mit seinen Musikern einen Kreis bildet, der in Gruppenumarmung vor Euphorie zu hüpfen beginnt, sagt eigentlich alles über diesen Abend.

Zumal er in der geschätzt allenfalls zu 80 Prozent gefüllten SAP Arena und 32 Jahre nach Neil Youngs letztem Konzert in Mannheim deutlich mehr Zuschauer verdient hätte. Dass die Musiker sich nach einem Auftritt vor 20 000 Fans auf der ausverkauften Berliner Waldbühne von den Lücken im Publikum nicht beeindrucken lassen, gehört auch zur Kunst. Stattdessen liefern sie das umfangreichste Konzert dieser kleinen Tournee - denkwürdig.

Aber der Altmeister fühlt sich in Deutschland auch wunderbar aufgenommen, was das enorme Ausmaß seiner Inspiration erklärt: Auch im Namen von POTR schrieb er nach dem Konzert am Dresdner Elbufer am 2. Juli in seiner Internetzeitung „NYA Times-Contrarian“: „Unsere zweite europäische Show war ein wunderbares Erlebnis für uns alle. Ich fühlte die Musik und spielte mit meinen Seelenverwandten von Promise of the Real in Deutschland. Das Publikum hier ist wunderbar, ebenso wie dieses Land. Die so gut gepflegte Landschaft Deutschlands ist ein gutes Beispiel für den Rest der Welt, insbesondere für die Gegner-Länder der Klimawissenschaft.“

Deutschland als Vorzeigeland

Mit einem Seitenhieb auf Politiker wie US-Präsident Donald Trump fügt er an: „Sobald man den Unterschied anschaulich sieht, indem man auf der ganzen Welt von Ort zu Ort reist, ist es offensichtlich. Wenn man nicht reist, muss man den politischen Führern glauben, die in einigen Fällen Anti-Wissenschaftler sind.“ und macht seinem aktuellen Gastland zum Schluss Komplimente: „Deutschland ist der Beweis dafür, dass das Rücksichtnahme auf die Erde real und wundervoll sein kann! Danke Deutschland, dass du uns wieder hierher geführt hast!“

Dass beim Konzert in Mannheim so viele von Neil Youngs größten Hits in dem hochinteressant zusammengestellten Programm fehlen, wie andere Stars nicht mal vorweisen können - egal. Spielt er halt andere. Es ist doch wunderbar, wenn Konzertprogramme noch überraschen können. Und das praktiziert dieses Rock-Monument, wie wohl nur noch er es kann: Wer alle vier Shows der bisherigen Europa-Tournee in Odense, Dresden, Berlin und Mannheim besucht hat, bekam mehr als 50 (!) verschiedene Songs zu hören - an jedem Abend waren nur drei gesetzt („Words (Between The Lines Of Ages“, „Winterlong“, „Rockin’ In The Free World“).

Abgerundet wird der Abend von einer starken, perfekt gewählten Vorgruppe: Deutlich weniger sanft als auf Platte zelebrieren die Londoner Bear’s Den Indie-Folk, der wunderbar klingt. Sänger Andrew Davie strahlt aus allen Knopflöchern: „Es ist so eine Ehre, die Bühne mit Neil Young und Promise Of The Real zu teilen“ - und darf sich zusätzlich über viel Applaus für seine harmoniestarken Nu-Folk-Songs wie „Above The Clouds Of Pompeji“ freuen.

Das Programm

  • Hauptteil: 1. Mansion On The Hill (1990), 2. Love And Only Love (1990), 3. Words (Between The Lines Of Ages (1972), 4. Winterlong (1977), 5. Bad Fog Of Loneliness (1971 aufgenommen, 2007 veröffentlicht), 6. The Needle And The Damage Done (Solo, 1972) 7. Over And Over (1990), 8. Country Home (1990), 9. Everybody Knows This Is Nowhere (1969), 10. Down By The River (1969), 11. Cowgirl In The Sand (1969), 12. Mr. Soul (1967), 13. Prisoners Of Rock ’n’ Roll (1987), 14. Harvest Moon (1992), 15. Human Highway (1992), 16. Long May You Run (1976).
  • Erste Zugabe: 17. Are You Ready For The Country (1972), 18. Hey Hey, My My (Into The Black) (1979), 19. Rockin‘ In The Free World (1989).
  • Zweite Zugabe: 20. Fuckin‘ Up (1990). 
Mannheim

Neil Young rockt in der SAP Arena

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