Erzähl mir was

Nachdenken über den Prügelknaben

In Wissembourg treffen sich die Preisträger des Schreibwettbewerbs „Erzähl mir was“. Doch was hat es mit dem mysteriösen Gemälde und dem ständigen Regen auf sich?

Von 
Stefan M. Dettlinger
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Die Preisträger des Schreibwettbewerbs „Erzähl mir was“ Regina Rothengast (l.), Annika Reinhardt (2.v.r.), Tobias Etsch (r.) mit Verleger Ulrich Wellhöfer (2.v.l.) und „MM“-Kulturchef Stefan M. Dettlinger. © Dettlinger

Wissembourg. Es regnet. Mal wieder. Wie schwach glitzerndes Lametta fällt draußen das Wasser vom grauen Himmel und rauscht in rauen Mengen die Lauter hinunter. Das kleine Flüsschen, das rund 30 Kilometer weiter bei Lauterbourg in den Rhein fließt, ist so nah, als könne es auch zu diesem Gebäude gehören. Ein elementarer Mitbewohner. Ein vertrautes Kontinuum. Dass das Wetter (fast) immer Kapriolen schlägt, wenn sich die Preisträgerinnen und Preisträger des Schreibwettbewerbs „Erzähl mir was“ (EMW) im Elsass treffen, könnte Fragen aufwerfen. Aber Annika Reinhardt, Tobias Etsch und Regina Rothengast verschwenden keinen Gedanken daran, dass das etwas mit ihnen zu tun haben könnte.

Im Gegenteil. Die drei sind so mit den Dingen beschäftigt, die hier geschehen, sie scheinen vollkommen in der Aura des Ortes aufzugehen. Gespräche mit drei verschiedenen Verlegern. Eine Autorenlesung. Ein Gespräch von Ulrich Wellhöfer mit den Autoren, in dem der Verleger und Kulturveranstalter einen zentralen Punkt fürs Publizieren nennt: Es komme in erster Linie darauf an, dass Autorinnen und Autoren die Verlage verstehen und die Verlage den Buchhandel. Ein magisches Dreieck. Ein logisches Dreieck.

Es sei aber auch „eine ganz eigene Welt“ hier, sagt Annika Reinhardt lächelnd. Die 21-jährige zweite EMW-Siegerin studiert in ihrem Hauptleben in Heidelberg Psychologie. Sie fühle sich wohl hier und fühle auch die Anwesenheit der Stadt Wissembourg, habe aber hier, an „diesem tollen Ort“, ein ganz gemeinschaftliches Gefühl, weil so viele Sachen gemeinsam erlebt werden.

Sie meint etwa die Autorenlesung vom Vorabend, als Günter Müchler sein Buch „Beste Feinde“ vorgestellt hatte. In der öffentlichen Veranstaltung mit Publikum aus Deutschland und Frankreich hatte der Schriftsteller, der eigens aus Köln angereist war, über die deutsch-französische Geschichte gesprochen und gelesen, hatte aufgezeigt, wie einzigartig das Verhältnis der beiden Staaten gewachsen ist und dass man heute, nachdem man die Phase einer Geschichts- und Schicksalsgemeinschaft hinter sich gelassen habe, in einer Handlungsgemeinschaft lebe. „Manchmal würde man sich mehr Wachsamkeit wünschen“, ist in seinem Buch zu lesen, nichts auf der Welt sei für ewig gesichert, und: „Die Klopfzeichen sind unüberhörbar.“ Ein gewisses Unbehagen ist da spürbar, eine unangenehme Vorahnung.

Lehrer Tobias Etsch ist begeistert von einem „tollen Autor“

Tobias Etsch hatte das „sehr gemocht“. Er schien sogar eine besondere Beziehung zu Müchler aufgebaut zu haben, war im Anschluss an die Publikumsdiskussion mit ihm rauchen und spazieren gegangen und urteilt am folgenden Tag: „Das ist ein toller Autor, mit dem man sich gut austauschen kann.“ Etsch, 32 Jahre alt, ist Lehrer in Mosbach und hatte das Buch nach der Lesung gleich vor Ort gekauft. Er will es nun der Lehrerschaft im Auguste-Pattberg-Gymnasium Mosbach mitbringen. Offenbar hat er Sendungsbewusstsein.

Für Regina Rothengast, erste EMW-Siegerin, war das „wahnsinnig inspirierend“, wie sie im Vieraugengespräch verrät. Für sie, die bereits zum zweiten Mal im Elsass dabei ist und schon Bücher auf dem Markt hat, waren die Einblicke ins Verlagswesen und die Tipps für sie als Autorin außergewöhnlich. Außerdem: nette, interessante und belesene Menschen und eine inspirierende Lesung, „so etwas habe ich nicht immer, das ist schon außergewöhnlich“.

Bereits am Vormittag hatten die Verleger Nadine und Walter Sauer (Edition Tintenfaß) Stefan Wirtz (Conte) zusammen mit Wellhöfer über die Mühen, bürokratischen Hürden und Leiden des Verlegerlebens zwischen ISBN- und ISNI-Nummern erzählt, über überzogene Verpackungsverordnungen, Barsortimente, Nettoverkaufspreise, Remissionen und unendliche Online-Datenbanken, in denen man, wenn man nicht brav regelmäßig seine Bestände und Lieferbarkeiten aktualisiert, vom Gold- zum Bronze-Status degradiert werde und Strafe bezahlen müsse. Wellhöfer echauffiert sich: „Und bei dem Beiblatt zum Buch garantiert man dann, dass das Buch ein risikofreies Produkt ist. Was für ein Risiko soll denn ein Buch darstellen?“

Hingegen sieht Wellhöfer die Entwicklung hin zu vielen kleinen Buchmessen landauf, landab als positiv und Chance für kleinere Verlegerinnen und Verleger an, gegen die Großen anzukommen. Neben gut zwei Dritteln des Gesamtumsatzgeschäfts in Buchhandel (41,8) und Versandbuchhandel (25,6) erreichten deutsche Buchverlage 2023 laut Börsenverein 22,6 Prozent ihrer Umsätze mit Büchern zu Endverbraucherpreisen direkt an die Kunden. Es gibt laut Wellhöfer kleine Verlage, die 40 Prozent ihres Umsatzes über Buchmessen generieren, und laut Verleger Sauer sind manche Verleger jede Woche irgendwo auf einer Buchmesse präsent. Genug der Zahlen.

Literaten lauschen, während Gewalt droht: rätselhaftes Bild

Persönlicher geht es freilich im Gespräch zwischen den drei Schreibenden und Wellhöfer zu. Hier lobt und kritisiert er die drei Gewinner-Geschichten auf konstruktive Weise, geht auf Erzählstile ein und warnt vor Sätzen, die eine Geschichte größer machen sollen, obwohl sie schon groß genug ist. So brauche inmitten einer gelungenen bildhaften Beschreibung einer veritablen Katastrophe niemand den Satz, dass es sich dabei um eine handle. „Damit mache ich als Autor alles kaputt“, meint Wellhöfer.

Da sitzen sie also, die drei mehr oder weniger jungen Literaten, und hören Wellhöfers Ausführungen über Lektoratsprozesse zu, während an der Wand auf einem mittelalterlich anmutenden Gemälde jemand mit einem Tongefäß in der Hand ausholt, um auf einen jungen Mann einzuschlagen. Über das Bild rätseln das ganze lange Wochenende von Donnerstag bis Sonntag über eigentlich alle. Wie ist es wohl zu diesem sich anbahnenden Gewaltausbruch gekommen? Sicher ist nur eines: Der Kniende, der Geschundene sieht nicht aus wie ein unwillkommener Autor, der ein schlechtes Manuskript bei Wellhöfer eingereicht hat – obwohl: Der Verleger muss schon zugeben, dass 90 Prozent der Manuskripte, die bei ihm ins Haus fliegen, die wichtigsten Kriterien nicht erfüllen und zum Beispiel gar nicht ins Profil seines Verlagsprogramms passen.

Es geht um Marketing, um Dialoge, Buchcover, Exposées, Psychologie, Charaktere, Blütenprojekte, verlegerisches Risiko, Self-Publishing und Buchtitel, die Autoren vielleicht gar nicht so gut gefallen, aber vom Verleger zum besseren Verkauf kreiert werden, denn: Ein verkauftes Buch mehr hilft schließlich nicht nur dem Verleger, sondern auch dem Autor oder der Autorin.

Am Ende des EMW-Wochenendes in der Pfistermühle sind dann alle auch voller Eindrücke, kulinarischer Köstlichkeiten und Informationen. Wie es da wäre, noch eine Geschichte zu schreiben? Während der Regen wieder vom Dezemberhimmel fällt, ist zumindest Restbegeisterung zu spüren: Es wird die Geschichte des Jungen, dem auf dem Bild an der Wand eine Tracht Prügel droht. Nach dem Wettbewerb ist vor dem Wettbewerb. Tobias Etsch, Regina Rothengast und Annika Reinhardt machen sich an die Arbeit. Mal wieder.

Ressortleitung Stefan M. Dettlinger leitet das Kulturressort des „MM“ seit 2006.

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