Autorinnen und Autoren aus Afrika werden bei Lesungen oftmals gefragt, ob sie sich – da sie meist in Frankreich, Großbritannien oder den USA leben – überhaupt als afrikanische Literaten verstehen. Was diese Frage bedeute, erwidern manche der Autoren dann gern, generell afrikanische Literatur gebe es sowieso nicht und die Frage sei geradezu rassistisch, denn Schriftsteller aus dem arabischen Raum oder aus Lateinamerika, die ebenfalls gern in Paris oder Madrid leben, würden nichts dergleichen gefragt.
Als im Jahr 1968 unter dem Namen Yambo Ouologuem der Roman „Das Gebot der Gewalt“ erschien, bejubelte die Literaturkritik dieses Buch und verlieh ihm den Prix Renaudot. Die Rezensenten gingen beim Autorennamen von einem Pseudonym aus, denn sie bezweifelten, ein Afrikaner könne so ein Buch geschrieben haben.
Mohamed Mbougar Sarr Die geheimste Erinnerung der Men schen. ...
- Mohamed Mbougar Sarr: Die geheimste Erinnerung der Menschen. Hanser, 445 Seiten, 27 Euro.
- Übersetzt hat den Roman das bei Heidelberg lebende Übersetzerpaar Holger Fock und Sabine Müller. Colloquium der Uni Mannheim
Anspielungen und Bezüge
Als sich zeigte, dass der belesene Autor mit literarischen Anspielungen, Querverweisen, Zitaten und Textversatzstücken etwa von Graham Greene, Gustave Flaubert, Guy de Maupassant, Tacitus oder aus der Bibel arbeitete, und dass er zudem europäische Ethnologen wie den Deutschen Leo Frobenius karikierte, wurde dem in Paris lebenden, in Mali gebürtigen Schriftsteller Ouologuem vorgeworfen, ein Plagiator zu sein.
Verspielte Souveränität im Umgang mit Weltliteratur wurde Ouologuem nicht zugestanden. Der folgende Literaturskandal – der Verlag nahm den Titel aus dem Handel, der Autor zog sich nach Mali zurück – ist unvergessen, noch 2008 erschien in den USA ein „Yambo Ouologuem Reader“.
Anspruch auf Weltliteratur
Um diesen Skandal dreht sich die Handlung in Mohamed Mbougar Sarrs im Vorjahr mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Roman „Die geheimste Erinnerung der Menschen“. Es ist ein – Yambo Ouologuem gewidmeter – Roman über die Bedeutung von Literatur, der sich wie „Das Gebot der Gewalt“ mit zahlreichen Bezügen in die Weltliteratur einreiht.
Sarr spielt mit der Namensgebung seiner Figuren – Bercoff, Bollème, Engelmann, Jacob, Lamiel, Maximin, Nanga – auf einen französischen Autor, eine Flaubert-Expertin, einen deutschen Verleger, eine deutsche Slawistin und eine im KZ Riga ermordete Jüdin, einen Roman Stendhals, einen Musiker und eine kamerunische Textildesignerin an.
Heavy Metal gibt den Rhythmus vor
Sabine Müller und Holger Fock leben bei Heidelberg und zählen zu Deutschlands besten Übersetzern. Auch den mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Roman „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ von Mohamed Mbougar Sarr haben sie ins Deutsche übertragen.
Wie arbeiten Sie zusammen? Setzen Sie sich gemeinsam an den Text, oder arbeiten Sie abschnittsweise?
Holger Fock: Einer von uns beiden macht die Roh-, die Erstübersetzung. Dazu gehören auch Recherchen – Anspielungen, Zitate. Dann geht es zum anderen, der überarbeitet es und schickt es zurück. Dann wird es wieder überarbeitet, und bei schwierigen Büchern wie bei Sarr kann es schon sechs, sieben Überarbeitungsphasen geben.
Sabine Müller: Das ist oft von Kapitel zu Kapital verschieden. Es gibt bei Sarr ein Kapitel, das nur aus einem Satz besteht, ein Stream of Consciousness. Da muss man sehr auf den Rhythmus achten, damit das innere Sprechen laut wird. Und auf die Satzmelodie – mein Mann arbeitet häufig mit Musik.
Fock: Heavy Metal …
Müller: In meinem Arbeitszimmer höre ich immer die Bässe.
Das treibt voran …
Fock: Ja, das treibt voran und gibt einen Grundrhythmus.
Sie sprachen von Recherchen – wie viel Arbeit fällt da an?
Müller: Wenn ich beim Übersetzen auf ein Problem stoße, dann suche und lese ich im Umfeld. Bei Sarr wird man zum Beispiel mit afrikanischen Mythologien konfrontiert, die man nicht einschätzen kann. Also recherchiert man und liest alles Mögliche dazu. Das Buch ist durchsetzt mit Anspielungen, die wir erkennen und entsprechend übersetzen müssen. Manchmal mussten wir Wörterbücher afrikanischer Sprachen konsultieren: Wolof-Französisch oder Serer-Französisch. Wichtig sind auch literarische Referenzen, wie Roberto Bolaño oder Witold Gombrowicz. Sprachduktus und und Erzählstrukturen erinnern an Bolaños Romane „Die wilden Detektive“ und „2666“.
Fock: Man merkt, dass Sarr damit zu schreiben gelernt hat.
Sie haben im Sommersemester 2022 mit einer Gruppe Studierender am Institut für Übersetzen und Dolmetschen der Universität Heidelberg zu dem Buch gearbeitet. Hat Sie das beeinflusst?
Fock: Dazu muss man sagen, dass die Art des Übersetzens, die dort gelehrt wird, kein literarisches Übersetzen ist, sondern Fachübersetzen, Dolmetschen. Aber manche Studierende haben ein ausgeprägtes Interesse an Literatur, wobei sie über französischsprachige afrikanische Literatur und insbesondere Sarr wenig wussten. Zudem arbeiteten wir mit Passagen, die ich schon mit meiner Frau übersetzt hatte und die ich gut erklären konnte. Es geht beim literarischen Übersetzen vor allem um stilistische Dinge, unterschiedliche Tonlagen, sprachliche Register und eine gute Beherrschung der deutschen Sprache mit ihrem komplizierten Satzbau. Natürlich haben wir auch Anregungen für unsere Arbeit aufgenommen. Bei manchen Aspekten kann man durchaus unterschiedlicher Meinung sein. Durch die verschachtelte Erzählstruktur in Sarrs Roman ist es schwierig, die Zeitebenen auseinanderzuhalten, zumal da im französischen Original nicht immer eine klare Linie herrscht. Das geht oft im Deutschen so nicht, also haben wir an einigen Stellen das Tempus der im Deutschen üblichen Zeitenfolge angepasst. Das wurde dann kontrovers diskutiert.
Wie oft hatten Sie Kontakt mit Mohamed Mbougar Sarr?
Fock: Anfangs hatten wir zwei-, dreimal E-Mail-Kontakt. Was schwierig ist, denn seit Sarr den Prix Goncourt bekommen hat, ist er ständig unterwegs, um eine Neuausgabe zu präsentieren – das Buch ist bis jetzt in 33 Sprachen übersetzt worden. Dann gab es zwei Zoom-Meetings, um unsere Fragen zu besprechen. Bei der Buchvorstellung in Berlin haben wir ihn schließlich persönlich kennengelernt.
Im Namen der Hauptfigur, des jungen Möchtegernliteraten Diégane Latyr Faye verstecken sich Anspielungen auf den in Westafrika berühmten Film „Mossane“ – so heißt auch eine der weiblichen Hauptfiguren in der verschachtelten Geschichte des Romans „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ –, gedreht 1996 von Safi Faye mit einem Diogoye als Gegenspieler Mossanes.
Sarrs Frage ist nach wie vor: Wann wird ein Autor aus Afrika als gleichberechtigte maßgebliche literarische Stimme gehört, wie weit muss er sich europäisieren, wie sehr muss er sich entafrikanisieren, um ernstgenommen zu werden, wie afrikanisch muss er bleiben, um Exotismuserwartungen und Voyeurismus zu bedienen?
Sarr webt die Handlung um die Suche nach dem verschollenen Exemplar des umstrittenen Romans von Autor Elimane Madag Diouf – der sich mit kompatiblerem Pseudonym für die europäische Leserschaft T.C. Elimane nennt –, in ein engmaschiges Sicherheitsnetz, das sich auf Karl Jaspers Philosophie und die Fantastik von Jorge Luis Borges, Adolfo Bioy Casares, Julio Cortázar und Ernesto Sabato oder die komische Tragik im Werk von Witold Gombrowicz bezieht.
Werk zu entdecken
Lieferte der italienische Autor Italo Calvino mit dem Roman „Wenn ein Reisender in einer Winternacht“ 1979 einen Streifzug durch die Stile und Genre der Weltliteratur, liefert der senegalesische Autor Sarr mit seinem Roman „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ eine labyrinthische Suche nach der Wirkung von Literatur. Die Handlung steht dabei eher im Hintergrund, sie ist nur der Schlüssel in die fantastische Dimension der Weltliteratur.
Und vielleicht trägt Sarrs Buch dazu bei, nach der Neuedition des Romans „Das Gebot der Gewalt“ 2019 im Zürcher Elster-Verlag nun auch die weiteren Bücher des 2017 in Mali gestorbenen und als äußerst witzig geschilderten Ouologuem zu veröffentlichen: den kolonialismuskritischen Essay „Lettres à la France nègre“, das erotische Märchenbuch „Les Milles et Une Bibles de Sexe“ oder die beiden Liebesromane „Le secret des orchidées“ und „Les Moissons de l’amour“.
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