Mannheim. Musical? Die Genrebezeichnung stimmt. Mehr nicht. Wer bei dem neuen Stück „Blume Peter“ aus der Reihe „Mannem macht Musical“ vom Capitol einen locker-leichten, beschwingten und amüsanten Musicalabend erwartet, täuscht sich. Aber gut ist der Abend zweifellos - schauspielerisch wie musikalisch sehr gut gemacht und auch ebenso sehr gut als Milieustudie über eine arme Familie im aufstrebenden Mannheim zur vorigen Jahrhundertwende. Und der Abend dient als traurige Korrektur der falschen Einschätzung, der Blumepeter sei ein liebenswürdiger Mannheimer Witzeerzähler gewesen. Er war krank.
Das Stück knüpft an das zum Fahrradjubiläum 2017 so erfolgreiche Musical „Karl Drais - Die treibende Kraft“ an, ein Werk über Fußballtrainer Seppl Herberger soll folgen. So viel Stadtgeschichte auf der Bühne freut den Lokalpatrioten. Und Mannheim kann stolz sein, dass es solch ein Musicalprojekt komplett aus eigener Kraft auf die Bühne bringt - Georg Veit (Regie/Buch/Bühne), Rino Galiano (Komposition/Songtexte) und Michael Herberger als Produzent sowie Capitol-Chef Thorsten Riehle haben da zusammen ein wichtiges, ein wertvolles Werk geschaffen.
Ensemble und Termine
Regieteam: Georg Veit (Buch/Regie), Michael Herberger/Rino Galiano (Musik), Doris Marlis (Choreographie), Daniel Prandl (Musikalische Leitung), Daniela Werner (Kostüm, Ausstattung und Maske), Thorsten Riehle (Produzent).
Darsteller: Sandra Maria Germann (Peter), Sascha O. Bauer (Karl Buck), Ronja Rückgauer (Susanne Schäfer), Hartmut Lehnert (Nasegraf), Susan Horn (Brunslissl), Rosa Sutter (Gille Galle), Thomas Simon (Meese Hannes) sowie Niklas Hofmann, Tobias Kraus, Daniel Höhr, Nina Kraus, Melanie Di Bernardo, Nina Lang, Lea Ebbinghaus.
Termine und Vorverkauf: 19. 11., 30.12., 19.2., 30. 3., 3.5., jeweils 20 Uhr. Tickethotline 0621/3 36 73 33, Mo bis Fr 11 bis 17 Uhr (außer Mittwoch), Ticketschalter Di und Do 14 bis 19 Uhr, Sa 10 bis 13 Uhr.
Blumepeterfest: Die große Benefizveranstaltung des Feuerio zugunsten der „MM“-Aktion „Wir wollen helfen“ ist nach dem Blumepeter benannt, weil sie Menschen wie ihm, die auf der Schattenseite des Lebens stehen, helfen soll.
Die Leiden der Schwester
Es ruft eindringlich, ja bedrückend die längst bekannte, aber doch oft verdrängte traurige Wahrheit über jenen Menschen in Erinnerung, der nie einen der vielen ihm zugeschriebenen Witze wirklich erzählt hat. Einen Menschen, der behindert war und erst lange nach seinem Tod als lustiges Original glorifiziert wurde.
Der Einstieg in das Stück ist etwas verwirrend, denn man findet sich zunächst im Irrenhaus wieder - ehe dann zurückgeblendet wird in das Jahr 1875 in Plankstadt. Da bringt die ledige Barbara Berlinghof einen Buben zur Welt. Er ist, wie es gleich entsetzt heißt, „ein Krüppel“, und der Vater Joseph Schäfer muss gedrängt werden, den kleinen Peter als sein Kind anzunehmen.
In Plankstadt gibt es aber keine Arbeit, immer nur Wassersuppe. Maurer Joseph Schäfer zieht mit der Familie daher 1891 um nach Mannheim, wo die Fabriken von Benz und Lanz für Arbeit und Glanz sorgen, wo es elektrisches Licht gibt. Als „Noigeplackte“ lebt die Familie in U 3,20, wo die Nachbarskinder den körperlich und geistig zurückgebliebenen Peter hänseln und Schwester Susanne sich immer um den Bruder kümmern muss. Der leidet unter frühkindlichem Kretinismus, ausgelöst durch eine Unterfunktion der Schilddrüse, und die Schwester leidet, dass der „Zwerg“, wie er genannt wird, immer ihr Anhängsel ist. Das ist eine der hervorragenden Seiten des Stücks - dass es ganz offen die Schwierigkeiten der Geschwister von Behinderten thematisiert und dass beide Rollen (Sandra Maria Germann als Blumepeter, Ronja Rückgauer als Schwester) so ungemein stark besetzt sind und beide so exzellent aufeinander abgestimmt agieren, dass ihnen am Ende beim stehend dargebotenen Applaus für das gesamte Ensemble ganz besondere Anerkennung zuteil wird.
„Kaaf mer ebbes ab“
Sonst hat der Abend leider ein paar Längen und auch nur ein Song das Zeug dazu, zum Ohrwurm zu werden: „Kaaf mer ebbes ab“, jener Spruch, den der kleine Peter - wegen Asthma mit näselnder Stimme - gesagt haben soll, als er durch die Kneipen zieht. Er muss etwas dazuverdienen, also verkauft er Blumen.
Die Gebrüder Karl und Ernst Buck, Inhaber einer Rahmenhandlung sowie Unterhaltungskünstler in Varietes und bei den Fasnachtern vom Feuerio, fördern ihn - aber nutzen ihn auch aus, instrumentalisieren ihn. Es ist die Zeit, als Peter Schäfer kleine Auftritte hat, für Postkarten posiert, auf sich stolz ist und zum Original stilisiert wird. Es sind aber auch die Momente, in denen die Hauptdarstellerin - selbst kleinwüchsig und bekannt aus der deutschen Erstaufführung von „Liebe stirbt nie“ - für ganz große Bühnenmomente sorgt. Sie verkörpert aber ebenso gut den Wandel, den der Blumepeter nach dem Ersten Weltkrieg durchmacht. Karl Buck kehrt als Invalide zurück, kann sich nicht mehr um Peter Schäfer kümmern. Der ist nun nicht mehr lustig-frech, sondern jähzornig, böse, unberechenbar und neigt zu Exhibitionismus.
1919 wird er ins Kreispflegeheim Weinheim eingewiesen, 1929 in die Psychiatrie nach Wiesloch. Hier wird aus dem Original ein „Pflegling“. Auch wenn die weißen Zwangsjacken, die alle Darsteller nun tragen, nicht zugebunden sind, wird doch gut die beklemmende Atmosphäre solcher Anstalten deutlich. Aus Sicht der Nationalsozialisten leben da nur „Volksschädlinge“, weshalb sie 1940 das Euthanasieprogramm starten. „Die sin bees“ erkennt der Blumepeter früh. Ob er ihnen zum Opfer fällt, bleibt im Stück offen - denn man weiß nur, dass er 1940 stirbt.
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/kultur_artikel,-kultur-mannheimer-capitol-zeigt-einfuehlsames-musical-zum-blumepeter-_arid,1869596.html
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.mannheimer-morgen.de/orte/mannheim.html