Mannheim. Singende Heulsusen, die im Gefühlsüberschwang auf die Tränendrüse drücken, haben immer noch Hochkonjunktur beim großen Publikum. Die Schweizer Sängerin Lucia Cadotsch liefert da einen krassen Gegenentwurf. Bei ihrem Enjoy-Jazz-Auftritt in der Alten Feuerwache Mannheim zelebriert sie die Kunst emotionaler Zurückhaltung. Ist der Konzertsaal deshalb nur zur Hälfte gefüllt? Wie dem auch sei, das Publikum erlebt an diesem Abend einen grandiosen Auftritt.
Denn das Understatement der Vokalistin schafft eine enorme Dauerspannung. Ihre Stilistik des Nicht-Gesagten, Ausgesparten, lediglich Angedeuteten entwickelt eine geradezu magische Kraft. Die „Ballad Of The Drowned Girl“, Bert Brechts und Kurt Weills Erinnerung an die Ermordung von Rosa Luxemburg, gewinnt ihre Intensität gerade durch die schreckliche Beiläufigkeit, mit der Cadotsch den Verwesungsprozess der Leiche besingt. Nur ganz am Schluss lässt sie sich zu einer melismatischen Phrasierung hinreißen, als sie „one more corpse“ intoniert.
Stimme voller Melancolie
Ansonsten hält die Vokalistin Emotionen wie unter Eis bedeckt - aber nicht verborgen. Kleinste Wendungen, ein verwundert ausgesprochenes „you“ oder ein fragendes „we“ sind die einzigen Hinweise auf tiefere Gefühlsschichten. Cadotsch setzt ihre melancholisch durchtränkte Stimme, obwohl sie ausschließlich (eigene) Texte vorträgt, eher wie ein Instrument ein. Denn dies ist keine Sängerin, die mit einem Begleittrio auftritt. Die Vokalistin ist Teil dieser Band, der sie mit ihren Themen-Expositionen den musikalischen Bezugsrahmen vorgibt.
Ihre Formation, mit der sie ihr aktuelles Album „Aki“ vorstellt, tritt in der Feuerwache zum ersten Mal in neuer Besetzung auf. Und die hat ungeahnte Bezüge zur Rhein-Neckar-Region. An die Stelle von Kit Downes, der einen Großteil der Stücke komponiert hat, ist der Pianist Manuel Schmiedel getreten; der lebt zwar in New York, ist aber in Weinheim aufgewachsen. Schlagzeug spielt Jochen Rückert, inzwischen US-Bürger; er war 1996 Mitglied im ersten Trio der Weinheimer Pianistin Anke Helfrich. Nur der britische Bassist Phil Donkin ist von der Studioband noch dabei.
Die neuen Mitmusiker haben den Sound der Stücke verändert. Auf Platte sind viele der Songs durch komplexe Metren, Tempowechsel und Breaks bewusst sperrig gehalten. Rückert überspült diese rhythmischen Katarakte durch den beständigen Fluss seines Spiels und verleiht der Musik eine unverhofft swingende Qualität. Er ist ein wahrer Feinmechaniker an Trommeln und Becken, der ihnen feinste Kolorierungen zu entlocken weiß. Auf „Ballad Of The Drowned Girl“ macht er das Unmögliche möglich: Er spielt ein Schlagzeugsolo: dunkel pochend, raschelnd, schattenhaft.
Improvisator voller Ideen
Schon im Auftaktstück „Secedas“ lässt der Mann am Klavier als ideensprühender Improvisator aufhorchen. Schmiedel setzt zunächst knappe, pointiert lyrische Akzente, bei denen aber sein Gespür für harmonische Anziehungs- und Abstoßungskräfte hörbar wird - ehe er dann wie aus dem Nichts ein wild wogendes, weit ausuferndes Solo über die Tastatur fluten lässt. Donkin überzeugt durch die Filigranität und Sanglichkeit seines Spiels. Als Cadotsch im Duo mit ihm die Zugabe „Black Is The Colour Of My True Love’s Hair“ präsentiert, ist es der Bassist, der sein Instrument beredt zum Singen bringt. Die Sängerin dagegen intoniert das beschwörende Liebeslied bar jeglicher Sentimentalitäten wortkarg und kühl. Was für eine Spannung!
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