Enjoy-Jazz-Festival

Rainer Kern über Enjoy Jazz: Jedes Mal wie ein kleines Wunder

Rainer Kern hat das Festival Enjoy Jazz vor 25 Jahren gegründet. Zur Jubiläumsausgabe vom 2. Oktober bis 14. November heißt das Motto: „trust“, vertraue. Ein Gespräch über das „Festival für Jazz und Anderes“

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Bestimmt einer seiner Lieblingsorte zum Nachdenken: Enjoy-Jazz-Festivalchef Rainer Kern im Café. © Daniel Lukac

Herr Kern, bei Ihnen wird jetzt auch geboxt. Warum?

Rainer Kern: Weil Kunst die Realität schlägt, wenn sie überrascht.

Schlagfertig, Chapeau! Sie wollen also über die Realität hinaus?

Kern: Unbedingt, Kunst ist ja Interpretation von Welt, öffnet den Blick ins Undenkbare und erweitert damit die Realität.

Augmented Reality gewissermaßen. Auch das, was man als Realität des Jazz beschreiben könnte, ändert sich gewaltig, was man auch am Programm von Enjoy Jazz sieht. Was sind hier die gravierendsten Veränderungen?

Kern: Ich denke, das ist eine sehr zutreffende Beobachtung. Ich würde sogar sagen, dass die Realität des Jazz, von der Sie sprechen, permanenter Wandel ist. Denn die Realität des Jazz war schon immer eine Fantasie. Ein Sinnbild für das in Echtzeit kreativ zu imaginierende und idealerweise dann auch zu erschaffende Mögliche. Für mich ist Jazz der unausgesetzte Versuch, die gegebenen Umstände zu verändern und zu erweitern. Wenn Sie so wollen, ähnelt er darin einer Utopie – einer künstlerischen Utopie mit mal mehr, mal weniger starken sozialen und politischen Bezügen.

Deswegen auch das Jubiläumsthema Utopie …

Kern: … das Thema Utopie ist für uns quasi ein Unterthema unseres Festivalmottos „trust“ und wird auch an einem Abend präsentiert, den der Schriftsteller Ilija Trojanow gemeinsam mit dem Ensemble Modern gestaltet. Neben der Einführung eines Festivalmottos haben wir weitere strukturelle Veränderungen vorgenommen. Unter anderem haben wir das Festival in Themen-Cluster gegliedert. So ist die Enjoy-Jazz-Realität besser und einfacher zu verstehen.

Um mal auf eine sozio-politische Ebene zu kommen: Welche gegebenen Umstände würden Sie derzeit am liebsten verändern?

Kern: Bei der Vielzahl der von uns allen zu lösenden Problemen, Krisen oder Herausforderungen ist es sicher klug und hilfreich, bei uns selbst anzufangen – und zwar bei der Art und Weise, wie wir miteinander umgehen und diskutieren. Wir kommen nur in kontroversen, aber respektvollen Disputen weiter, nicht im vernichtenden Aufeinander-Losgehen.

Und da, meinen Sie, hilft – unter anderem – Jazz. Würden Sie sagen, dass Sie ein Idealist sind?

Kern: Nein. Oder ist man bereits ein Idealist, wenn man an die konstruktive Kraft der Kultur glaubt? Ich hoffe, nicht. Ich meinte das auch gar nicht eins zu eins. Natürlich weiß ich, dass ich die Welt nicht dadurch ändere, dass ich in ein Saxofon blase. Aber hinter diesem Vorgang steckt ja viel mehr. Der Jazz, oder die Kunst generell, repräsentiert unsere Fähigkeit zur kreativen Gestaltung. Das bekannteste Beispiel im Jazz ist sicher die Fähigkeit zur Improvisation, also die Kombination aus dem Lernen am und mit dem Gegenüber und dem Material. Einstein hat das viel schöner ausgedrückt, als er sagte: ‚Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.’

In welchem Zusammenhang hat er das noch mal gesagt?

Kern: Als jemand, der fundamentale, zum Teil sehr abstrakte Erkenntnisse entdeckt und beschrieben hat, hat sich Einstein auch mit den Menschen und ihrem konkreten Tun beschäftigt. Im Zusammenhang mit der Entwicklung der Atombombe ist diese pointierte Aussage so oder so ähnlich entstanden. Ich habe es aber lediglich als Bild verwendet, um zu zeigen, worum es mir bei der Einbeziehung von künstlerischen Strategien geht. Den Blick und die Konzepte öffnen.

Wenn man dabei auf das kuratorische Konzept von Enjoy Jazz blickt, sieht man, wie wesentlich weltoffener es geworden ist. Weltmusik wird ja mithin negativ verstanden. Wie sehen Sie das?

Kern: Sie haben völlig Recht. Der Begriff Weltmusik ist schwierig. Wir verwenden ihn nicht. Ohne zu tief in die semantischen Zusammenhänge einzudringen: Er ist eine Übersetzung aus dem Englischen, wo er aber eine ganz andere Bedeutung hat und keine konkrete Genrebezeichnung ist, sondern ein neutraler Sammelbegriff für die Musiken der Erde. Um hier nicht in das Fahrwasser des Missverständlichen zu geraten: Enjoy Jazz heißt seit Gründung im Untertitel schlicht „Festival für Jazz und Anderes“, was von Anfang an die Weltoffenheit des Jazz zum Ausdruck gebracht hat, ohne sie durch Genrezuschreibungen zu verengen. Ich wollte und will mit dem Festival die ganze Einflusstiefe und -breite des Jazz in andere Kunstformen und korrespondierende gesellschaftliche Fragestellungen aufzeigen und präsentieren. Vielleicht wird das nun von Jahr zu Jahr immer sichtbarer, mein Ziel jedenfalls ist es bereits seit dem Gründungsjahr 1999.

Das mit dem „... und Anderes“ ist geschickt. Da gehen auch Boxen und Fußball...

Kern: Ein kluges Konzept ist immer geschickt (schmunzelt). Aber Achtung, es heißt „und anderes“, nicht „und alles andere“. Fußball sehe ich erstmal nicht, Basketball schon eher – in der NBA gibt es ja sogar eine Mannschaft, die sich nach dem Genre benannt hat, die Utah Jazz, die übrigens in New Orleans, der wichtigsten Keimzelle des frühen Jazz, gegründet wurde. Und zum Boxen: Der Perkussionist Joss Turnbull aus dem Umfeld der einzigartigen Orientalischen Musikakademie Mannheim hat mich angesprochen, dass er sein neues Projekt mit der kenianischen Ex-Profi-Boxerin Everline Odero gerne bei Enjoy Jazz vorstellen würde. Mich hat das Projekt überzeugt, und ich kann nur empfehlen, das am 2. Oktober nicht zu verpassen.

Okay, ich habe verstanden: Sie finden Boxen und Basketball gut. Sicher schwer zu sagen: Aber wie viel Prozent des Programms von Enjoy Jazz sind ihr ganz persönlicher Geschmack? 100 Prozent?

Kern: Sie haben Recht, das ist sehr schwer zu sagen, und Geschmack für mich eine schwierige Kategorie. Was ich mache, ist Verknüpfungen erzeugen. Ausgangspunkt ist ein persönlicher Grundimpuls, eine ästhetische Fährte. Entlang dieser entwickele ich dann sukzessive das Gesamtprogramm ohne ästhetische Kompromisse. Dabei spielen Erfahrung und eine künstlerische wie administrative Marktkenntnis und eine enge, oftmals über viele Jahre gewachsene intensive und wertschätzende Verbindung zu Musikerinnen und Musikern natürlich eine nicht zu unterschätzende Rolle.

Wie sieht es mit externer Beratung aus?

Kern: Natürlich folge ich anderen Impulsen. So ist das Programm am Ende eine Matrix aus Beziehungen und ästhetischen Verknüpfungen, die sich aus meiner Sicht und den vielen Hinweisen und Impulsen von außen speist, die zwar ich gestalte und dann natürlich auch verantworte, die aber in allen Entwicklungsphasen immer auch diffusionsoffen ist und meines Erachtens auch sein muss.

Sind Sie mit dem Ergebnis dann immer zufrieden?

Kern: Ich mache ein Festival mit Menschen für Menschen. Das sind schon mal zwei Personengruppen, deren Zufriedenheit mir genauso wichtig ist wie meine eigene. Ich würde es deshalb so formulieren: Ja, am Ende aller Prozesse hatte ich bislang immer das Glück, so etwas wie Zufriedenheit zu erfahren. Auch, weil mir Zufriedenheit gespiegelt wurde, wofür ich unendlich dankbar bin. Aber: Ich erlaube mir durchaus, an mir selbst und dem Resultat meiner Arbeit zu zweifeln. In gewisser Weise habe ich diesen Zweifel sogar als Motivation kultiviert. Das Denkbare ist ja immer um so vieles größer als das Tatsächliche am Ende sein kann.

Schöner Satz!

Kern: Ja, und trotzdem kommt für jedes Programm irgendwann der Zeitpunkt der unwiderruflichen Finalisierung. Für mich ist das kein einfacher Moment. Ich musste lernen, ihn anzunehmen. Das ist der Moment der Wahrheit. Er kommt mir jedes Mal wie ein kleines Wunder vor.

Kern und Enjoy Jazz

  • Rainer Kern, geboren 1965 in Mannheim, hat das Festival Enjoy Jazz 1999 in Heidelberg am Karlstorbahnhof gegründet. Seit 2000 findet es auch in Mannheim, seit 2002 auch in Ludwigshafen statt.
  • Enjoy Jazz ist das größte Jazz-Festival Deutschlands. Die 25. Ausgabe von 2. Oktober bis 14. November hat rund 50 Veranstaltungen und beginnt im Karlstorbahnhof mit einer langen Nacht und Fest (enjoy-jazz.de).

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