In der Alten Feuerwache stand am Samstag ein besonderes Event an. Antje Rávik Strubel gab sich zusammen mit Knut Cordsen die Ehre beim Festival Lesen.Hören. Er war Jurysprecher des Deutschen Buchpreises 2021, den ihr Roman „Blaue Frau“ mehr als verdient gewonnen hat, wie die jetzt sechste Auflage des Buchs unterstreicht. Der „das Ungeheuerliche in der Normalität“ thematisierende, hoch virtuose Text ist freilich schwere Kost. Denn: Blaue Frau – ohne Artikel – ist ein Rätselwesen, verwandt mit den Undinen, Nixen und Sirenen. Schließlich taucht sie immer nur am Hafen auf.
Der äußerst spannende Roman, der sich selber beim Entstehen zusieht, und wie der gebannte Blick auf Osteuropa zeige, so Cordsen einleitend, tagtäglich neue Aktualität gewinne, reflektiert im Medium Sprache was sexuelle, „männlich toxische“ Gewalterfahrung heißt und wie man sie überwinden kann. Nicht von ungefähr ist Strubel ja auch Übersetzerin, verpflichtet der Nüchternheit und Schärfe ihres Idols, der US-Essayistin Joan Didion (1934-2021). Deren wichtigste Arbeiten sie auch ins Deutsche übertragen hat.
Erste furiose Leseprobe: Die inzwischen 20-jährige Adina Schejbal, Rávik Strubel greift auf eine ältere Figur zurück, hat es nach einer wilden Flucht von ihrem Heimatdorf im Tschechischen nach Helsinki verschlagen. Dort hält sie sich in einer trostlos öden Plattenbauabsteige wie ein angstgequältes, todwundes Tier versteckt. Sie ist ihrem gönnerhaften älteren Lover, einem professoralen estnischen Blender, mitten auf einem „Schaulaufen“ blasierter Menschenrechtler blitzartig davongelaufen.
Sie hatte – zweite Leseprobe – ein fatales Räuspern aufgeschnappt: Just der illustre Ehrengast, „ein wichtiger Multiplikator“, hatte sie in ihrem Praktikum im brandneuen Kulturhaus in der Uckermark roh vergewaltigt. Ihn will sie – dritte Leseprobe – endlich vor Gericht bringen. Eine Anwältin und Helferin Kristina werden aufgerufen. „Tua res agitur“, schrieben die Alten über ihre Bühnen: Deine Sache wird hier verhandelt, aufgeteilt auf Nina, Sala, kleiner Mohikaner und Adina, die vier Persönlichkeitsprofile der durch jenen Notzuchtakt schwerstens traumatisierten Hauptfigur. Auf 429 Seiten sucht sie bei der Blauen Frau ultimativ den spinnwebdünnen Ariadnefaden aus dem eigenen Lebenslabyrinth zu neuen Ufern. Aber jedes Rätsel schützt sich selbst.
Liebe und infernalische Gewalt
So stand der Abend ganz im Zeichen dieser immergrünen Frage: Was ist Liebe, Selbstermächtigung, Vertrauen, überhaupt Persönlichkeit, vor der sinistren Folie infernalischer Gewalt? So sicher sie auf jede Antwort eine Frage hat, bestätigt Rávik Strubels „Blaue Frau“ so tapfer wie ergreifend einmal mehr das passionierte Wort Walter Benjamins: „Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegebenen.“
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