Mannheim. Plötzlich fühle ich mich ganz klein. Ich stehe vor „Der fruchtbare Halbmond“, eines meiner Lieblingswerke von Anselm Kiefer. Wenn man nah dran steht, gleicht die Oberfläche einer wilden, pastos aufgetragenen Farblandschaft in Erd- und Ockergelbtönen. Es ragen Dinge aus dem 35 Quadratmeter großen Relief hervor, von denen man nicht möglich hält, dass sie am Ende von weit weg diesen magischen babylonischen Turm ergeben, der einem die Namen alter Städte offeriert: Persepolis, Petra, Akkad und Jericho, Städte in der Frühzeit. In Ägypten. Phönizien. Assyrien. Mesopotamien.
Ähnlich geht es mir mit „Lilith“. Mehrmals nähere ich mich dieser so mythischen wie dämonischen „Lilith“, von der Kiefer auf 3,8 mal 5,6 Metern nur noch einen schwarzen Schopf übrig gelassen hat. Der Rest dieser (Bild)Welt ist ein im Dunst versinkendes Megapolis, ein Moloch des Untergangs. Türme. Skyscraper. Lochfassaden. Bis zum Horizont. Das Gleichnis Mensch und Natur hat der Mensch für sich entschieden. Keine Natur. „Lilith“ ist Erinnerung.
Kiefer muss live erfahren werden
Immer wenn ich mich „Lilith“ nähere, verschwindet alles und löst sich in eine fade impressionistische Fleckenwüste auf. Es ist faszinierend, wie aus all den Klecksen aus größerer Entfernung diese Dämonie aus Stahl, Stein und Beton erwächst.
Große Schau über wichtigen Künstler – aber zunächst nur im Auszug und im Netz
- Anselm Kiefer, geboren 1945 in Donaueschingen, zählt zu den wichtigsten Künstlern der Gegenwart. Seit Anfang der 1990er Jahre lebt er in Frankreich, zuvor unterhielt er längere Zeit Ateliers im Odenwald.
- Die Schau „Anselm Kiefer“ soll nach einer offiziellen Eröffnung bis 22. August zu sehen sein, täglich außer Montag 10-18 Uhr, erster Mittwoch im Monat 10-22 Uhr.
- Zur Ausstellung will das Museum ein umfangreiches Begleitprogramm bieten. Zunächst ist von all dem nur online ein Eindruck zu gewinnen: Die „Digitale Kunsthalle“ von ZDFkultur nimmt Kiefer ab Montag, 15. Februar, 10 Uhr, in einer Kooperation mit dem Museum unter die Lupe, und zwar unter der Web-Adresse digitalekunsthalle.zdf.de.
- Bemerkenswert ist dabei besonders die hohe Bildauflösung, die die komplexen Strukturen und Oberflächen der Werke realitätsgetreu erleben lässt. Präsentiert sind vier Werke: eine Skulptur der Reihe „Frauen der Antike“, außerdem „Jaipur“, „Der verlorene Buchstabe“ sowie „Der fruchtbare Halbmond“.
- Den Audioguide zur Ausstellung und weiteres Material stellt die Kunsthalle ab 15. Februar in ihrer App zur Verfügung (Informationen unter kuma.art)
- Eine Beilage zur Schau stellen wir unter morgenweb.de/kultur zum Download bereit; zu lesen ist sie auch in der E-Paper-Ausgabe. Ab 20. Februar ist Kunsthallen-Direktor Johan Holten Gast im Podcast „Mensch Mannheim“ von „MM“-Chefredakteur Karsten Kammholz.
Ich erinnere mich, wie ich in meiner Anfangszeit in Mannheim vor Kiefers „Welle“ saß. Minuten. Viertelstunden. Nachmittags habe ich mich davor gesetzt und - ja - meditiert. Kiefer braucht Zeit. Man setzt sich ihm aus. Man geht hin wie in die Kirche, wenn man zu sich kommen möchte. Denn jedes Werk ist ein Kosmos, ein Raum, den man im Geiste nur allmählich befahren kann.
Eine ganze Zeit war diese Ausstellung in der Kunsthalle Mannheim digital zu erleben. Das Digitale ist im Falle Kiefer aber nicht das, was es - sagen wir - etwa bei Gerhard Richter oder Jörg Immendorff wäre. Ohne diesen beiden großen Künstlern zu nahe treten zu wollen: Ihre Kunst ist als ihr eigenes Abbild noch irgendwie erfahrbar, selbst das berühmte „Café Deutschland“ Immendorffs offenbart die deutsche Geschichte als historische Tiefe seines Bildkosmos noch im zweidimensional Reproduzierten. Bei Kiefer nicht. Wer nie vor „Die große Fracht“ stand, weiß nicht, wovon er redet, wenn er über „Die große Fracht“ redet. Kiefer verweigert sich in und mit seinem Schaffen eindeutig nicht nur der Geschichtsvergessenheit, sondern auch dem Kunstwerk im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit. Kiefer auf dem Bildschirm, so scheint mir beim Streifen durch seine Ausstellung, ist wie Verreisen mit dem Finger auf der Landkarte.
Eigentlich hatte dieser Beitrag den Arbeitstitel: Allein-Sein mit Kiefer. Es sind aber zu viele Menschen da. Natürlich treffe ich bei meinem ersten offiziellen Kiefer-Visit auch den Kunsthallendirektor. Johan Holten läuft einigermaßen aufgeregt im Atrium umher. Er lächelt. Er redet. Er trifft Besucher, die an diesem ersten Tag wohlgeordnet strömen: „Endlich geht es los! Ich habe mich so sehr gefreut, die ersten Besucherinnen und Besucher im Atrium persönlich begrüßen zu können“, sagt er und ist für ein Fotoshooting vor Kiefers „Schwarze Flocken“ zu haben. Jeder, der hier rein will, muss sich vorher anmelden. Mit dem Buchungssystem auf kuma.art hat Holten zufolge „alles prima funktioniert“.
Großer Erfolg von Beginn an
Tatsächlich fühlt sich der Besuch an, als sei alles normal. Die Menschen verteilen sich vorbildlich in den Räumen, gehen, bleiben stehen, schauen, lesen, hören mit großen Augen und fragenden Blicken der Audiotour auf der KuMa-App zu. Wären die Masken nicht, man wähnte sich im Land der Normalität. Die Masken sind aber da.
„Die Resonanz war großartig“, sagt Holten am Ende des ersten Tages, am Dienstagabend, auf Anfrage der Redaktion. Die Timeslots seien schnell vergeben gewesen. Holten: „Mich haben in der Anselm-Kiefer-Ausstellung sogar Besucherinnen und Besucher angesprochen, die letzte Woche beim MVV-Kunstabend digital dabei waren und jetzt ganz dankbar sind, wieder durch die Kunsthalle gehen zu können und sich alles im Original anzusehen.“ Dieser MVV-Kunstabend, so verrät Pressereferentin Kathrin Sieberling beim Gang durchs Haus, habe beim digitalen Besuch der Kiefer-Schau am Mittwoch vergangener Woche rund 550 Besucher im Livestream erreicht. Holten war dabei. Und die Leiterin der Vermittlung: Dorothee Höfert.
Nun gilt: Daumen drücken. Denn der Spaß mit Kiefer könnte schnell wieder vorbei sein. Ist die Inzidenz in Mannheim drei Tage über 100, so schließen alle Museen wieder. Holten weiß es. 95,9 betrug sie am Mittwoch. Es bleibt spannend. Doch Kiefer wird all das überleben. Seine Kunst weist über diese Welt und ihre Probleme hinaus. So klein, wie ich mich vor ihr fühle, so klein werden der Moment und die ganze Pandemie vor einer Zeitlosigkeit, von der auch Kiefer erzählt.
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