Konzertkritik

Kraftwerk liefern am Karlsruher Schloss ein einmaliges Konzerterlebnis

16 000 Menschen bestaunen die spektakuläre Multimedia-Show der legendären Electro-Pioniere auf dem Balkon der Karlsruher Residenz in Erinnerung an einen „wunderbaren Künstlerfreund“

Von 
Jörg-Peter Klotz
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Kraftwerk spielen auf dem Balkon des Karlsruher Schlosses ihr einziges Deutschland-Konzert in diesem Jahr. © Uli Deck/dpa

Es menschelt bei den Musik-Maschinen von Kraftwerk bei ihrem spektakulären Konzert auf dem Balkon des Karlsruher Schlosses: „Unsere heutige musikalische Performance ist für meinen wunderbaren Künstlerfreund Peter Weibel gewidmet“, sagt Ralf Hütter, das letzte verbliebene Gründungsmitglied der legendären Pioniere der elektronischen Musik, nach der zweistündigen Show.

Würdigung für ZKM-Chef Peter Weibel

Das ist sehr anrührend. Denn fast alle der 16 000 Zuschauerinnen und Zuschauer wissen, dass dieser einmalige Auftritt nur aufgrund der engen Verbindung von Kraftwerk zum langjährigen Leiter des Zentrums für Kunst und Medien (ZKM) in Karlsruhe zustande kam und schon vor der Pandemie verabredet wurde. Weibel erlebt den bundesweit beachteten Konzert-Meilenstein leider nicht. Er starb am 1. März nach kurzer schwerer Krankheit im Alter von 78 Jahren.

Das einzige Deutschland-Konzert mit 16 Hochleistungs-Beamern

Einmalig ist die Show mit dem 77-jährigen Hütter und den drei weiteren Kraftwerk-„Operatoren“ Fritz Hilpert (seit 1989), Henning Schmitz (seit 1991) und Falk Grieffenhagen (Video, seit 2012) in zweierlei Hinsicht: Auf der Mitte Mai in Rio gestarteten Welttournee ist es das einzige Deutschland-Konzert des Quartetts.

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Und die mehr als imposante Multimedia-Installation, bei der 16 Hochleistungsbeamer mit Einbruch der Dunkelheit die gesamte 170 Meter breite Schlossfassade in eine gigantische Leinwand verwandeln, ist nur dieses eine Mal zu sehen. Es gibt keine Aufzeichnung. Nur abgewandelte Elemente der Show sollen bei den Schlosslichtspielen ab 16. August zu sehen sein.

Vier nahezu reglose Figuren

Nach ersten Sphärenklängen und ikonischen, hart gepixelten Kraftwerk-Figuren auf der Fassade betreten Hütter und Co. persönlich ihre Bühne - den Balkon des Schlosses, über dessen Balustrade sie mit ihren Pulten stehen und die Ovationen des Publikums entgegennehmen. Ein fast schon royaler Moment. Aber die vier nahezu reglosen Figuren treten noch mehr als gewohnt hinter ihre Kunst zurück: Schon die erste Nummer „Nummern“ bietet visuell Überwältigungskino in digital anmutendem Neongrün - dabei laufen eigentlich nur Zahlen über die Fassade.

Druckvolle Arrangements und viele Mash-Ups

Man kann nur rätseln, ob außer Hütters Sprechgesang irgendetwas von der Musik live gespielt wird. Und lange darüber räsonieren, ob das in diesem Kontext eine Rolle spielt. Der gewaltige bassstarke Sound ist jedenfalls keinesfalls anämisch und teilweise sind die bis zu 50 Jahre alten Songs ganz anders arrangiert. Wo es thematisch Sinn macht, clustern Kraftwerk ihre Tracks - heutzutage würde man das Mash-Ups nennen.

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Gleich zu Beginn verschmilzt „Nummern“ mit „Computerwelt“, „It’s More Fun To Compute“ mit „Heimcomputer“. Der ausgedehnte „Tour de France“-Block gerät etwas zäh - der Charakter einer Auftragsarbeit bleibt unüberhörbar. Die Kombination „Geigerzähler / Radioaktivität“ und der teilweise mit Industrial-Härte versehene Dreierpack „Trans-Europa Express / Metall auf Metall / Abzug“ zählen zu den Höhepunkten.

Symbolträchtige Bilder

Vieles an dieser Show wirkt symbolträchtig: Dass Kraftwerks juristischer Dauerzwist mit Rap-Produzent Moses Pelham über eine winzige Sequenz von „Metall auf Metall“ es bis zum benachbarten Bundesverfassungsgericht geschafft hat, ist nur eine Randnotiz. Bedeutungsschwerer: Die winzig wirkenden ewigen Futuristen mit ihren zeitlosen Klängen auf dem Balkon eines 400 Jahre alten Barock-Prachtbaus relativieren den Stellenwert des Menschen gegenüber Zeit, Raum, Natur und Digitalisierung ohne Worte.

Aber die Natur findet ihren Weg: Das Konzert auf dem Schlossplatz blieb zwar vom angekündigten Unwetter verschont. Dafür beginnt es ausgerechnet bei „Mensch-Maschine“ heftig zu regnen. Doch nach „Electric Café“ und vor den musikalisch wie visuell imposant umgesetzten großen Hits „Autobahn“, „Computer Liebe“ und „Das Model“ hat der Himmel ein Einsehen.

Auch mal schlichte Visuals wie zur Erholung

Manche Inszenierungen sind in dieser Dimension schlichtweg umwerfend: etwa wenn Radioaktivität, ein Raumschiff-Cockpit („Spacelab“) oder das erstaunlich organisch klingende „Die Roboter“ visualisiert werden. Dass es sich oft „nur“ um eine enorme Verbreiterung der herkömmlichen Bühnenshow handelt, ist sekundär. Dass zum Beispiel „Ätherwellen“ oder der „Transeuropaexpress“ eher schlicht inszeniert sind, wirkt fast erholsam. Das Spektakel fordert die Sinne heraus und wird vom Publikum so konzentriert konsumiert wie ein Klassik-Konzert.

Am Schluss menschelt es

Gegen Ende menschelt es noch einmal, als kurzzeitig ein Teil der Projektionsfläche dunkel bleibt. Das wirkt irgendwie tröstlich angesichts der perfekten Maschinerie dieses einmaligen Erlebnisses, an dessen Ende ein Operator nach dem anderen zum finalen Dreierpack „Boing Boom Tschak / Techno Pop / Musique Non-Stop“ mit einer kurzen altmodischen Verbeugung abgeht.

Ressortleitung Stv. Kulturchef

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