Allein das Bild von ihm erinnert ein wenig an Jimi Hendrix. Doch irgendwie führt das in die Irre: Denn Sidney Corbett ist seit 2006 Professor für Komposition an der Mannheimer Musikhochschule. Er unterrichtet dort also notierte zeitgenössische Musik. Wenn man will, kann man aber aus seinen konzentrierten Komposition ganz fein die alte Liebe zu anspruchsvoller Jazz- und Rockmusik heraushören. In der jetzt beginnenden Saison kommt endlich auch eine Oper Corbetts im Nationaltheater zur Uraufführung, und auch das Nationaltheaterorchester spielt ein großes Orchesterwerk.
Herr Corbett, ihr letztes Stück „Utopie und Nähe“ bezieht sich direkt auf Ernst Bloch und den Utopiebegriff. Was steckt dahinter?
Sidney Corbett: Erstaunlich ist, dass sein „Geist der Utopie“ mitten im Ersten Weltkrieg entstanden ist - in einer weltverändernden Krise. Bloch ging es im Kern stets um die Befreiung des Geistes. Daran habe ich meine Textauswahl orientiert.
Ist Musik nicht schon an sich eine Befreiung des Geistes - von aller Begrifflichkeit. Das Ankoppeln ans Wort kann man als Gefangennahme empfinden …
Corbett: Klar. Allerdings geht es bei Vokalwerken immer um eine verbindende Ebene, darum, etwas zu beleuchten, was im Text nicht offensichtlich ist. Bei Bloch gibt es subkutane Schichten, in denen es um die Untersuchung der Wahrnehmung an sich geht. Insofern geht er genau diesen Zustand des Gefangenseins an. In meinem Stück „Utopie und Nähe“ wird diese innere Stimme Blochs zum Gegenstand meiner Betrachtungen.
Bloch schrieb über Utopie aus der Katastrophe heraus, er schuf Licht im Dunkel. Wie wirkt die Welt heute auf Ihr Fantasieprodukt?
Corbett: Die Entscheidung, mich mit Blochs Utopie zu befassen, fiel lange vor Covid-19. Allerdings ist das Werk in dieser Zeit entstanden. Der Daseinszustand, in dem ich schreibe, ist weder kognitiv bewusst noch unbewusst. Es ist eine Art Zwischenetage. Wir sind der Welt um uns immer ausgesetzt. Was ich schreibe, ist immer eine Reflektion dessen. Allerdings ist sie im Wort vielleicht konkreter deutbar als bei absoluter Musik, die von Begrifflichkeit frei ist.
Ich finde ja, dass Ihre Musik, bei aller Modernität, etwas Romantisches hat, eine Sehnsucht mehr nach Vergangenheit als nach Zukunft …
Corbett: Sehnsucht ist eine wesentliche Regung bei mir, mein Stück für die Musikalische Akademie heißt auch „Violence and Longing“, Gewalt und Sehnsucht. Und ja, ich würde mich auch als historisch bewusst bezeichnen, aber meine Sehnsüchte sind nicht an eine Vergangenheit gerichtet, sondern Gegenwartsäußerungen. Die Tatsache aber, dass ich mich nach etwas in meiner Musik sehne, heißt ja, dass ich eine Abwesenheit spüre, vielleicht ist es das, was Sie Romantik nennen. Und um mit Karl Valentin zu sprechen: „Damals war die Zukunft auch besser“.
Sie sind seit 15 Jahren Professor in Mannheim. Es gibt von Ihnen Opern, Orchesterwerke und Sinfonien. Wenn man schaut, wie etwa Wolfgang Rihm ins musikalische Leben Karlsruhes integriert ist, verwundert doch, dass erst jetzt größere Werke von Ihnen am Nationaltheater und bei der Musikalischen Akademie aufgeführt werden. Wieso erst jetzt?
Corbett: Nun ja, Wolfgang ist gebürtiger Karlsruher, das spielt sicherlich eine Rolle. Ich freue mich, dass meine Werke jetzt hier aufgeführt werden. Warum jetzt erst, kann ich nicht sagen. Ich entscheide ja nicht, was wann wo gespielt wird. Aber ich fühle mich sehr privilegiert. Die Arbeit mit jungen Menschen an der Hochschule macht weiterhin Freude.
Es gibt von der Politik mehr und mehr die Forderung nach Öffnung, sozialer Relevanz und so etwas wie einem integrativen Moment von Kultur. Zeitgenössische Musik erreicht, so sagen es Statistiken, rund ein Prozent der Gesellschaft - und das schon seit Jahrzehnten. Zweifeln Sie manchmal am Sinn Ihres Tuns?
Corbett: Das Zweifeln gehört zum Berufsbild eines Komponisten. Aber ich zweifle eher am Zustand der Gesellschaft als am Sinn, Kunst zu produzieren. Kunst, insbesondere performative Kunst vor Publikum, hat eine Nieren-Funktion, sie ist ein gesellschaftliches Entgiftungsorgan. Ich konnte während des Lockdowns eine Verrohung feststellen, die ich teils auf das Fehlen von Konzert- und Theaterbesuchen zurückführe. Was die Statistik angeht: Bachs „Kunst der Fuge“ oder die späten Beethoven-Quartette haben nie große Menschenmengen erreicht. Aber Sie werden sicher nicht daran zweifeln, dass es gut ist, sie zu haben.
Sidney Corbett
Der Komponist: Corbett wurde 1960 in Chicago geboren, studierte Komposition und Philosophie, promovierte 1989 in Yale. Seit 2006 ist er Professor an der Musikhochschule Mannheim. In seiner Musik setzt er der (Post)-Moderne einen Stil der Konzentration gegenüber.
Aufführungen: Die Kammeroper „Keine Stille außer der des Windes“ (Text: Simone Homem de Mello nach Fernando Pessoa) feiert am 6.3.22 Uraufführung im Studio Werkhaus des NTM. Bereits am 29./30.11.21 dirigiert Alexander Soddy Corbetts Uraufführung „Violence and Longing“ im Rosengarten.
Nein, zum Glück. Sie sehen also keinen Relevanz-Unterschied zwischen dem Werk Bachs und Beethovens und, sagen wir, dem von Schönberg, Rihm oder Ihnen?
Corbett: Die Relevanz entscheiden andere. Natürlich war die Gesellschaft bei Bach und Beethoven völlig anders als bei Schönberg, der ja fliehen musste und dessen Relevanz erst viel später erkannt wurde. Also ich möchte mich keinesfalls mit großen Komponisten vergleichen. Sie haben ja nach dem Sinn gefragt, in unserer Zeit Kunst zu produzieren. Die Politik fordert den integrativen Moment, das ist richtig und berechtigt. Natürlich müssen wir uns alle nach der Relevanz unseres Tuns fragen. Wie wir darauf reagieren, liegt aber an uns. Meine Antworten darauf sind in meinen Werken …
... die ja spirituell sind. Wie erleben Sie die Krise des Glaubens?
Corbett: Für mich ist Komponieren spirituell. Grundsätzlich hat jeder das Potenzial zur spirituellen Hinwendung. Dazu braucht es Unterstützung bei der Entwicklung einer inneren Disziplin, die ja Voraussetzung von Spiritualität ist. Diese Unterstützung zu geben, wäre die Hauptaufgabe von Einrichtungen wie den konfessionellen Kirchen. Leider wird dies nicht immer geleistet. Ich sehe daher eher eine Krise religiöser Einrichtungen als des Glaubens an sich. Das spirituelle Leben braucht Nahrung. Für mich ist das Musik, nicht nur Zeitgenössische.
Da sprechen Sie was an. Mitunter erinnern Sie äußerlich - zum Beispiel auf Wikipedia - an Jimi Hendrix. Sie lieben ja auch Jazz, Fusion und Rock und spielen selbst Gitarre. Ist Rock und Pop genauso Kunst wie Corbett?
Corbett: „Hendrix is God“, hieß es bei uns. Bill Evans, King Crimson, Coltrane, Yes, Led Zeppelin, auch Dylan - das ist Kunst wie Feldman, Nancarrow oder Josquin. Es geht immer übers Lernen. Ich habe von vielen Musikern gelernt: von meinem Lehrer György Ligeti wie auch durch Aufnahmen von Jimmy Page, Wayne Shorter oder Miles Davis. Aber als Komponist höre ich anders als ein Konsument. Ich suche immer nach Klängen, Strukturen, Formen, Herangehensweisen, die mich auf meinem Weg weiterbringen, wie gesagt: die mir Nahrung geben. Ich habe Anfang der 2000er Jahre in Berlin in einer Techno-Haus Band gespielt, Vierte Heimat. Auch diese Welt von Beats hat mein musikalisches Denken geprägt und bereichert.
In der GEMA gibt es regelmäßig Diskussionen darüber, ob jemand für das Ausstrahlen eines Popsongs von drei, vier Minuten genau so viel Geld bekommen sollte wie für einen Satz eines Streichquartetts. Was finden Sie?
Corbett: Die GEMA unterscheidet zwischen E- und U-Musik. Die Erstellung einer Partitur für Streichquartett ist aufwendiger, als einen Song zu schreiben, der dann aber 100 mal häufiger gespielt werden kann. Ich halte die Unterscheidung prinzipiell für richtig. Die Ausrichtung ist so unterschiedlich wie die Verwertungsinfrastruktur. Im klassischen Bereich wird zu 90 Prozent historische Musik gespielt, die ja rechtefrei ist. Dort, wo Popmusik erklingt, sind umgekehrt 90 Prozent neu. Die GEMA ist ein wirtschaftlicher Verein und kein Richter über die Qualität eines Musikstücks.
Der Komponist David Philip Hefti hat mir gegenüber mal geäußert, er fände es richtig, wenn auch für Mozart und Konsorten Gebühren bezahlt würden, die dann lebenden Komponisten zugeführt werden könnten. Wie stehen Sie dazu?
Corbett: Die Idee ist nicht neu. Aber wer soll das zahlen? Die Verwertungsgesellschaften vertreten die Urheber. Was wäre die rechtliche Grundlage für eine solche Gebühr? Darf man die Rechte an den Werken von Mozart und Co. einfach vererben und zeitgenössischen Komponisten überzeichnen?
Vielleicht eine Pauschale…
Corbett: …für alle Konzerte, die dann an Komponisten weitergegeben wird? Nehmen die Konzertbesucher den höheren Preis einfach hin? Das Geld muss ja irgendwo herkommen. Und nach welchen Kriterien werden die Komponisten denn ausgezahlt. Wer entscheidet das? Das Prinzip eines Urheberrechts, das übrigens von Richard Strauss stammt, hat seine Berechtigung. Mozart musste die „Zauberflöte“ noch schnell für Harmonieorchester arrangieren, bevor ein anderer es tat und Mozart leer ausgegangen wäre.
Es würde Komponisten helfen.
Corbett: Dieses Anspruchsdenken ist mir fremd. Niemand schuldet mir etwas für meine Existenz, jedenfalls nicht, weil ich Künstler bin. Wenn wir über ein allgemeines Grundeinkommen reden wollen, wäre das etwas Anderes. Natürlich kann ich den Wunsch nach Sicherheit verstehen. Aber sie gibt es nicht. Ein mögliches Ende einer Künstlerbiografie ist, dass wir meinen, etwas Wesentliches zu sagen, das aber keiner hören will. Das Risiko müssen wir tragen.
Da sind wir in der Diskussion über Kulturfinanzierung allgemein. Die meisten Kompositionsaufträge bezahlt der Steuerzahler …
Corbett: Direkt oder indirekt. Es gibt sehr wichtige Stiftungen. Manche Aufträge werden von Festivals finanziert, manchmal werde ich direkt von Interpreten beauftragt. Orchester, Rundfunkanstalten, Opernhäuser sind alle durch Steuergelder finanziert, andererseits aber werden etwa Opernaufträge oft über Sponsoren finanziert. Ich bin aber kein Politiker, habe weder Entscheidungsmacht noch viel Einblick in die Strukturen der Kulturfinanzierung.
Schaffen Sie mit Ihrer Musik auch eher eine Gegenwelt zu all dem?
Corbett: Meine musikalische Sprache und Welt haben sich über die Jahre organisch entwickelt, ernährt von den Quellen, die mich interessieren. Wesentlich für mich ist eine meloharmonische Sprache, die unsere intervallische Erinnerungen einbindet, ohne in kadenzierende Tonalität gefangen zu werden. Ligeti sagte einmal: „Die alte Musik ist tot, aber die Neue Musik ist auch tot“. Also suche ich nach Möglichkeiten, eine Musik zu schreiben, die weder die alte noch die Neue Musik ist, sondern eine eigene, die mir erlaubt, die Welt, wie ich sie erfahre, auszudrücken. Insofern schaffe ich nicht explizit eine Gegenwelt, sondern meine Lesart der Welt, in der wir leben.
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