Ein Sohn liebt seine Mutter; im Grunde sind die beiden ein Herz und eine Seele. Dass die Mutter raucht wie ein Schlot, muss der Sohn akzeptieren. Längst hat er es aufgegeben, sie zu einem gesünderen Lebenswandel zu bewegen. Was er nicht hinnehmen will, ist der Umstand, dass sie hinsichtlich des Ukraine-Kriegs der russischen Kriegspropaganda aufsitzt. Der namenlose Ich-Erzähler stammt aus der Ukraine. Mit acht Jahren kam er mit den Eltern – dem jüdischen Vater und der aus Moldawien stammenden Mutter – sowie der kranken, leidend im Verborgenen lebenden Schwester Ende der 1990er Jahre als Kontingentflüchtling nach Deutschland. Nach Leipzig in Sachsen, dem „unpogromigsten“ Bundesland Deutschlands.
Dies ist die Ausgangslage im Roman von Dimitrij Kapitelman, der in dem Buch an seiner eigenen Lebensgeschichte weiterschreibt. Zu welchen Anteilen die erzählte Geschichte autobiografisch, zu welchen autofiktional ist, weiß wohl nur Kapitelmann selbst. Im ersten Roman, „Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters“ (2016), waren Vater und Sohn nach Israel gereist, auf Identitätssuche im Judenstaat. Im zweiten Buch, „Eine Formalie in Kiew“, muss der Ich-Erzähler seiner Geburtsurkunde wegen in die Ukraine reisen. Jetzt, im dritten Roman, will er dort – mitten im Krieg – Freunde treffen. Zweck der Reise ist auch, durch eigene Erlebnisse die Mutter vom wahren Charakter dieses Kriegs überzeugen.
Zunächst aber bietet das Buch Schilderungen von seinen Erfahrungen in der neuen Heimat Deutschland. Die Eltern eröffneten im Leipziger Stadtteil Kleinzschocher früh einen Laden für „Russische Spezialitäten“ und verkauften alles Mögliche – von Fisch und Fleisch über Eis und Krimsekt bis zu Souvenirs. Die Kundschaft setzt sich zum überwiegenden Teil aus Nashi zusammen – den „Unseren“, zu denen Juden, Ukrainer und Russen zählen, am Ende aber alle Osteuropäer. Man hält zusammen, vor allem gegen die Anfeindungen Rechtsextremer. Mit seinem „Sprachinhalator“ – der Lektüre der geliebten russischen Literatur – versorgt sich der Erzähler mit Lebenssauerstoff.
Vor Sprachwitz überbordender Roman mit unerwartetem Ende
Im zweiten Kapitel, nach annähernd zwei Dritteln des Buchs, erleben wir ihn auf der Bus-Fahrt nach Kiew. Automatisch schaltet sich beim Grenzübertritt eine ukrainische Luftalarmsirenen-App auf sein Smartphone. Die Kontrolle durch eine Grenzbeamtin mit MG weckt bei dem ehemaligen Ukrainer Sorge vor einer Rekrutierung durch die Armee. Der surrealen Idylle seiner ersten Eindrücke von dem Land korrespondiert die Ruhe und Gelassenheit der Menschen, die teilweise während der Luftalarme weiter tanzen. Von Freunden erfährt er von der Korruption im Land – etwa wenn Generäle im Namen gefallener Soldaten Kredite eintreiben. Ein Besuch von Butscha hinterlässt einen beklemmenden Eindruck. Zurück in Leipzig freilich muss er feststellen, dass er den Zweck der Reise verfehlt hat: Die Mutter vertraut weiter dem offiziellen russischen Fernsehen. Der lebendig erzählte, vor Sprachwitz überbordende Roman endet unerwartet – mit einem Hinweis auf grassierenden Antisemitismus im Land.
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