Das Interview: - Für Jurist Volker Erb greift der Nothilfeparagraf im Fall von Polizisten, die Entführern mit Folter drohen, um Leben zu retten / ARD zeigt Sonntag Filme zum Thema

Jurist Volker Erb: "Der Staat darf keine Partei fürs Unrecht ergreifen"

Von 
Sebastian Koch
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Eine Frage von Moral, Menschlichkeit, Recht – und Gerechtigkeit: In „Feinde“ verhört Kommissar Peter Nadler (Bjarne Mädel, l.) den mutmaßlichen Kindesentführer Georg Kelz (Franz Hartwig). © Rabold/ARD degeto

Volker Erb von der Universität Mainz hat zwischen 2002 und 2004 den Fall um Polizeivizepräsident Wolfgang Daschner und Entführer Magnus Gäfgen intensiv verfolgt (siehe Infobox) und sich mit Arbeiten zum Notwehrrecht einen Namen gemacht. Mit dieser Redaktion spricht er über die Vorgänge, die am Sonntag in der ARD filmisch thematisiert werden, und darüber, wie breit der Handlungsspielraum von Polizisten in einem Rechtsstaat ist.

Herr Erb, Sie haben im Dezember 2004, kurz vor dem Urteilsspruch im Fall Daschner, in einem Gastbeitrag für die Wochenzeitung „Die Zeit“ darauf plädiert, nach Nothilfeparagraf 32 zu urteilen. Wie sehen Sie das fast genau 16 Jahre später?

Volker Erb: An meiner Position dazu hat sich nichts verändert. Ich habe dazu in Fachzeitschriften mittlerweile noch mehrere Beiträge veröffentlicht und behandle das Thema auch im „Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch“ (Standardwerk zum Strafgesetzbuch/Anm. d. Red.) zur Notwehr. Ich habe mich im Laufe der Zeit mit gegensätzlichen Positionen auseinandergesetzt und weitere Argumente entwickelt, die meine Position stützen.

Welche weiteren Argumente führen Sie auf?

Erb: Der Ausgangspunkt der Überlegungen war das Problem bei der Anwendung von Artikel 1 des Grundgesetzes: „Die Menschenwürde ist unantastbar“. Ich habe herausgearbeitet, dass wir hier einen Konflikt bei der Menschenwürde von Täter und Opfer haben und dass, entgegen verbreiterter Ansicht, die Pflicht zur Achtung der Würde des Täters hier mit einer mindestens gleichwertigen Pflicht zur Achtung der Würde des Opfers kollidiert und nicht nur mit einer bloßen Schutzpflicht des Staates. Im Grunde genommen muss man nämlich sagen, dass der Staat einen aktiven Beitrag zur Verletzung der Menschenwürde des Opfers leistet, wenn er Notwehrmaßnahmen unterbindet. Das ist das zentrale Argument: Wir haben auf der einen Seite die Würde des Täters und auf der anderen die des Opfers und somit eine Patt-Situation - in einer solchen darf der Staat nicht zulasten des Opfers Partei ergreifen.

Was hätte es für das Strafmaß von Daschner bedeutet, wenn sich das Gericht Ihrer Argumentation angeschlossen und bei seinem Urteil auf Nothilfe geurteilt hätte?

Erb: In diesem Fall hätte das Gericht Daschner freisprechen müssen. Objektiv betrachtet bestand zwar keine Nothilfelage mehr, denn Gäfgen hatte das Kind schon getötet. Daschner hatte aber gedacht, Jakob von Metzler würde zum Zeitpunkt des Verhörs noch leben. An dieser Stelle ist entscheidend, dass dieser Irrtum nicht auf mangelnder Sorgfalt von Daschner beruhte, sondern ausschließlich durch Gäfgens Verhalten bedingt war. In dieser Konstellation wäre Daschner, der dachte, er würde Leben retten, durch einen entsprechenden Irrtum entschuldigt und insofern nicht strafbar.

Wir müssen uns, zum besseren Verständnis, über die Nothilfe unterhalten. Wann liegt die Nothilfe, auf die Sie sich beziehen, vor? Welche Kriterien müssen erfüllt sein?

Erb: Paragraf 32, der Nothilfe und Notwehr regelt, greift bei einem gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff. Es muss also zum Zeitpunkt der Notwehrhandlung ein Angriff gegen rechtlich geschützte Interessen vorliegen. Wenn ich jemanden entführt und eingesperrt habe, dauert dieser Angriff solange an, bis der Entführte wieder frei ist - und damit dauert auch die Notwehrlage an.

Ist es dann auch nicht mehr ausschlaggebend, dass das Entführungsopfer, in diesem Fall der elfjährige Jakob von Metzler, schon nicht mehr am Leben war?

Erb: Das führt natürlich dazu, dass objektiv keine Notwehrlage mehr vorliegt. Aber wenn sich die Situation entsprechend dargestellt hat, begründet das den Irrtum, der hier zu einer sogenannten Putativ-Notwehrlage führt. Ob eine solche den Betroffenen entlastet, hängt davon ab, ob er den Irrtum hätte vermeiden können.

Ich bin ein juristischer Laie - was meinen Sie damit?

Erb: Die Frage ist, ob man ihm einen Vorwurf machen kann, dass er die Situation nicht vollständig durchschaut hat, oder ob die Putativ-Notwehr durch die Gegenseite verschuldet wurde. In diesem Fall war Gäfgen ein Entführer, der behauptet hat, das Kind würde noch leben, er aber nicht sagt, wo er es gefangen hält. Er hat also selbst diesen Irrtum provoziert - das kann man dann nicht dem Polizeibeamten zur Last legen. Meiner Meinung nach ist das Verhalten der Beamten deshalb durch eine Putativ-Notwehr zu entschuldigen, auch wenn die Notwehrlage objektiv nicht gegeben war.

Wenn ein Mann auf der Straße zufällig hinter einer Frau herläuft, beispielsweise, weil sie den selben Heimweg haben, fühlt sich die Frau bedroht und sprüht dem Mann Pfefferspray ins Gesicht. Es stellt sich heraus, dass der Mann nichts im Schilde geführt hat. Kann der sich bedroht fühlenden Frau der Angriff dann auch mit Nothilfe entschuldigt werden?

Erb: In Ihrem Beispiel kommt es darauf an, ob die Frau in dieser Situation erkennen konnte, dass es kein Angriff auf sie war, sondern der Mann da einfach nur entlanggelaufen ist - oder ob sich die Situation so dargestellt hat, dass die Frau sich tatsächlich bedroht fühlen musste. Das hängt auch vom Verhalten des Mannes ab. Wenn der sich wie ein typischer Vergewaltiger verhält oder bewusst etwas getan hat, um sie zu erschrecken, dann fällt das Risiko des Missverständnisses ihm zur Last. Dann ist auch das ein Fall von strafloser Putativ-Notwehr. Wenn der Mann aber in einem normalen, üblichen Abstand ein paar Meter hinter ihr herläuft und sie überzogen ängstlich reagiert, dann kommen wir in den Bereich, in dem man ihr vorwerfen müsste, in einer normalen Situation nicht ausreichend nachgedacht zu haben. Dann wäre ihr Verhalten eine strafbare Körperverletzung.

Sie berufen sich im Fall Daschner auf Paragraf 32, Notwehr. Bedeutet das, dass sie Folter oder die Androhung von dieser in solchen Situationen befürworten?

Erb: Ich würde das Vorgehen von Wolfgang Daschner und seinem Kollegen nicht als Folter bezeichnen. Die Beamten waren in einer ganz spezifischen Situation, eben in einer Notwehrlage, und sie haben es im Übrigen bei der bloßen Androhung von Gewalt belassen. Der Begriff der Folter ist da fehl am Platz.

Wann fängt dann aber Folter an?

Erb: Der Begriff „Folter“ in seiner extrem negativen Besetzung passt für mich, wo Aussagen mit Gewalt erpresst werden, und es dabei - wie in den allermeisten solcher Fälle - eben nicht um die Verteidigung eines konkreten Menschen gegen seine gerade eben stattfindende Ermordung geht. Ich spreche dabei von Misshandlungen, um Kriminalfälle zu lösen, oder die sich nicht gegen denjenigen richten, der in diesem Moment als rechtswidrig handelnder Angreifer in Erscheinung tritt - das ist dann Folter im klassischen Sinn und in jedem Fall verboten.

Wir leben in einem liberalen Rechtsstaat, der sich doch auch dadurch auszeichnet, dass er die Freiheitsrechte und Menschenwürde eines jeden Einzelnen, also auch eines Kriminellen achtet - auch wenn er dadurch an seine Grenzen kommt, wie bei der Metzler-Entführung. Greifen Sie mit Ihrer Interpretation nicht genau diesen Grundsatz und somit unser ganzes Rechtsstaatsprinzip an?

Erb: Der Staat muss die Rechte von Straftätern natürlich respektieren. Die Strafverfolgung ist an strenge rechtsstaatliche Grundsätze gebunden - für das Polizeirecht gilt das ebenfalls. Es liegt mir fern, zu sagen, der Staat dürfte Gewalt gegen festgenommene Personen unter irgendwelchen Umständen polizeirechtlich institutionalisieren. Es geht nur darum, dass der Staat in einer akut zugespitzten Situation, in der einem Menschen die Ermordung droht, keine Partei für das Unrecht ergreifen darf. Und da muss es der Staat eben gegebenenfalls hinnehmen, dass jemand diesen Angriff mit erforderlichen Mitteln abwehrt - auch dann, wenn diese Person ein Polizeibeamter ist, der damit eigentlich seine Dienstpflichten verletzt. Ich bin der Meinung, dass man da zwischen der polizeirechtlichen Situation auf der einen Seite und der strafrechtlichen Verantwortung auf der anderen differenzieren muss. Und für Letztere gilt eben Paragraf 32, der grundsätzlich jedes erforderliche Mittel zur Abwehr eines solchen Angriffs erlaubt.

Ohne Magnus Gäfgens Verhalten in irgendeiner Weise rechtfertigen zu wollen: Hatte er nicht auch das Recht zu schweigen, weil er sich durch eine Aussage selbst stark belastet hätte - was man von Ermittlerseite aus hätte respektieren müssen?

Erb: Er hat im Grundsatz in der Tat das Recht zu schweigen, um sich nicht strafrechtlich zu belasten. Dieses Recht wiegt schwerer als das Interesse an einer effektiven Strafverfolgung. Es wiegt aber nicht schwerer als das Recht seines Opfers, im letzten Moment vor der Ermordung bewahrt zu werden.

Wie ist diese Frage in anderen Staaten geregelt? Gibt es dort ähnliche Diskussionen?

Erb: Ich weiß, dass diese Frage etwa in Israel in der Vergangenheit aus nahe liegenden Gründen eine große Rolle gespielt hat. Es wird auch in anderen Staaten diskutiert, wobei ich dort keinen Überblick über das einschlägige wissenschaftliche Schrifttum habe. Aber die Diskussionen gibt es natürlich.

Wie ist die rechtliche Situation in Israel gelöst?

Erb: Es ist wohl auch dort umstritten.

Abschließend die Frage: Wie sollten sich Ermittlerinnen und Ermittlern in ähnlichen Fällen künftig verhalten?

Erb: Wenn noch einmal so ein Fall auftreten sollte, bei dem die Rettung eines Entführungsopfers davon abhängt, dass man dem Entführer Schmerzen androht, hoffe ich persönlich, dass ein Polizeibeamter ähnlich handelt wie Wolfgang Daschner.

ARD bereitet Thematik am Sonntagabend in zwei Filmen auf

Was tun, wenn Polizisten einem (Kindes)Entführer gegenübersitzen und dieser den Aufenthaltsort seines Opfers nicht verrät – und so dessen Tod in Kauf nimmt? Dieser Frage, die eine juristische und eine moralische Komponente hat, widmet sich die ARD: An diesem Sonntag zeigen „Das Erste“ und alle Landesrundfunkanstalten ab 20.15 Uhr den Film „Feinde“ – aus zwei Perspektiven.

Nach einer Vorlage von Autor und Jurist Ferdinand von Schirach, angelehnt an reale Ereignisse im Jahr 2002 im „Entführungsfall Jakob von Metzler“, steht im Ersten das Handeln von Ermittler Peter Nadler im Fokus. Gespielt von Bjarne Mädel, glaubt Nadler zu wissen, dass Georg Kelz (Franz Hartwig) die zwölfjährige Lisa (Alix Heyblom) entführt hat. Doch Kelz schweigt sich über Lisas Aufenthaltsort aus. Eindringlich spielt Mädel einen Kommissar, der an rechtsstaatlichen Mitteln zu verzweifeln scheint – und eine weit über die Ermittlungen hinaus reichende Entscheidung trifft.

Zur gleichen Zeit zeigen alle Dritten Programme die Perspektive von Rechtsanwalt Konrad Biegler (Klaus Maria Brandauer). der die Verteidigung von Kelz übernimmt. Für den Zuschauer bietet das zunächst vergleichsweise wenig Mehrwert, erst in der zweiten Filmhälfte trifft Biegler vor Gericht zum juristischen Showdown auf Nadler. Den aber sehen Zuschauer mit identischen Szenen auch im Hauptprogramm. Dass die ARD Bieglers Perspektive ab 22.30 Uhr nochmals im Hauptprogramm zeigt – und damit einen über weite Strecken identischen Film –, bleibt fragwürdig.

Volker Erb und der Fall „Wolfgang Daschner/Magnus Gäfgen“



  • Volker Erb, in Grünstadt geboren, hat den Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität Mainz inne. Er hat sich durch Arbeiten zum Notwehrrecht und zur Rettungsfolter einen Namen gemacht.
  • Der „Fall Daschner“ bezieht sich auf Vorgänge in einem Verhör von Magnus Gäfgen. Der hatte 2002 den elfjährigen Jakob von Metzler entführt und vor der Geldübergabe getötet.
  • In Verhören verschleierte er sowohl die Tötung als auch den Aufenthaltsorts Jakob von Metzlers. Polizeivizepräsident Wolfgang Daschner ordnete daraufhin gegenüber Kommissar Ortwin Ennigkeit an, Gäfgen Gewalt anzudrohen.
  • Zu der kam es nicht: Gäfgen sagte aus, wo der (tote) Junge zu finden sei. Daschner informierte die Staatsanwaltschaft über das Vorgehen und fertigt einen Aktenvermerk an.
  • Das Landgericht Frankfurt verurteilte Daschner wegen Verleitung eines Untergebenen zu einer Straftat und Ennigkeit wegen Nötigung im Amt zu Geldstrafen.

Redaktion Reporter in der Lokalredaktion Mannheim & Moderator des Stotterer-Ppppodcasts

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