Als Novelle hat Jürgen Theobaldy seine Erzählung „Der Schützling“ gekennzeichnet. Traditionsbewusstsein spricht sich darin aus, denn die Prosagattung war besonders im 19. Jahrhundert eine bevorzugte Form. Nach einem Wort Goethes stellt sie „eine sich ereignete unerhörte Begebenheit“ dar, hält also eher Ungewöhnliches parat.
Auch daran orientiert sich der 1944 geborene, in Mannheim aufgewachsene und in der Schweiz lebende Autor. Vor allem aber beweist er sich als traditionsbewusst, indem er erzählerisch genau und mit hohem Stilempfinden vorgeht. Theobaldy schreibt näher betrachtet eine Künstlernovelle: Ein Künstleragent namens Heinrich Blüm berichtet über einen besonderen und besonders schwierigen Künstler, den Dirigenten Marus Lorbert, und das ebenfalls nicht leichte Verhältnis zu ihm. Darüber hinaus schreibt Theobaldy aber auch über die Grenzen des Erzählens und der Sprache, denn nicht nur deutet er an, welche Mühe es dem ehemaligen Germanistikstudenten Blüm bereitet, die richtigen Worte zu finden; er macht auch die Schwierigkeit an sich deutlich, über die begrifflose Kunst der Musik zu schreiben – und entfaltet seine Erzählung zugleich fast wie eine Komposition.
Es geht um hohe Kunst und widrigen Alltag, Kultur und Geschäft, feine Sitten und Unarten, außerdem um Liebe, Tod, Freund- und Feindschaft – um Themen also, die auch den Stoff für Opern bilden. Man spricht über Wagner, Strauss, Mozart, Beethoven, Tschaikowsky und noch andere. Und während alle diese großen Tonsetzer in Diskussionen erörtert werden, die Blüm und Lorbert miteinander führen, wird die Gestalt des Dirigenten plastischer. Nach seinem Debüt an der Mannheimer Oper hat er eine Weltkarriere als Gastdirigent begonnen, eilt von Erfolg zu Erfolg, ist aber auch gefürchtet, weil er Proben platzen lässt, Aufführungen absagt, sich mit Solisten streiten und ganze Orchester zutiefst beleidigen kann.
„Unerhört“ ist einiges hier: Weil Lorbert ihm die musikalische Sensibilität absprach, soll ein empfindsamer Musiker gar Suizid begangen haben; und ausgerechnet dessen Witwe spielt sich dann als hingebungsvolle Anhängerin des Ausnahmedirigenten auf. Dann passiert noch mehr, das man am besten selber liest in diesem schönen Buch, das auch mit den Finessen der Ironie souverän zu verfahren weiß.
Ob der geschäftstüchtige Heinrich Blüm ein verlässlicher Berichterstatter ist? Diese Frage stellt sich ebenfalls, denn der kompakte Text erzählt ja auch von den Möglichkeiten des Erzählens. Er kreist, wie die Musik und alle Kunst, wie deren Urheber und Interpreten, eben auch um sich. Doch selbst das ist noch nicht alles. Denn ebenso ist diese Novelle ein Abgesang auf die Hochkultur, die einen ständigen Niedergang diagnostiziert – die große Namen längst verstorbener Künstler idealisiert und darüber die Gegenwart des Lebens zu verpassen droht.
Sich frei machen
Auch im Umgang mit der Kunst gilt es, sich frei zu machen, den Verstellungen und Versprechungen des Betriebs auszuweichen. Auf neueren Formen der Selbstverständigung, wie sie „soziale Medien“ bieten, liegt indessen wohl noch weniger Segen. Das ist kein zentraler Aspekt dieser Erzählung, wird aber wie so vieles Andere ebenfalls noch miterwähnt.
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