Literatur

"Jahr der Wunder" ist ein endloser Kreis aus Rettung und Zerstörung

Louise Erdrichs Roman „Jahr der Wunder“ setzt mit ausuferndem Charme alles mit allem in Beziehung - Vergangenheit mit Gegenwart, Indigene Spiritualität mit weißer Polizeigewalt und vieles mehr

Von 
Christel Heybrock
Lesedauer: 
Louise Erdrich. © Paul Emmel

„Fünf Tage, nachdem Flora gestorben war, kam sie immer noch in den Laden. Ich war nie streng rational. Wie könnte ich auch? Ich verkaufe Bücher.“ Das sagt in Louise Erdrichs „Das Jahr der Wunder“ die indigene Buchhändlerin Tookie, die einst wegen eines bizarren Vergehens zu 60 Jahren Haft verurteilt worden war, aber vorzeitig freikam dank der Hartnäckigkeit ihres mittlerweile verstorbenen Anwalts. Tookie ist angestellt in Erdrichs Kultbuchhandlung Birchbark Books in Minneapolis, und die spukende Flora eine Figur, die halbwegs real war in just diesem Laden, wenn auch nicht spukend, aber als weiße, manisch nach Indianerliteratur suchende Leserin, die …

Ach Gott, wie soll man das weiter beschreiben? In diesem Buch, dessen Originaltitel „The Sentence“– was zugleich „das Urteil“ und „der Satz“ bedeuten kann – in seinem geheimnisvollen Doppelsinn viel prägnanter ist als der allerweltsdeutsche … also in diesem Buch ist alles vernetzt, steht alles in Beziehung zu allem: indigene Spiritualität mit weißer Polizeigewalt, Historie mit Gegenwart, erzählte Handlung mit der Wirklichkeit der Autorin, die als Nebenfigur in der Story schon mal auftaucht, und der flotte, amüsante Sprachstil mit der bestürzenden Gefährdung der Figuren, deren einzige Heilung in Literatur besteht. Das Erzählen greift sozusagen weltweit aus und kehrt als individuelle Kraftquelle zur aktiven Handlung des Erzählens zurück – ein unsichtbarer Kreis, wie er auch auf anderen Ebenen indianisches Denken prägt.

Charmante Erzählperspektive

Louise Erdrich ist eine ungeheuer aktive Autorin, selbst in diesem Buch wird ihr Schreibzwang erwähnt – sie legt nicht nur rund alle zwei Jahre einen neuen Roman vor, sondern hat Lyrik, Kinder- und Sachbücher geschrieben, den Pulitzerpreis und etliche andere Ehrungen erhalten, wobei ihre Beliebtheit nicht zuletzt aus der scheinbar leichten, distanziert charmanten Erzählperspektive resultiert. Erdrich ist eine Ojibwe-Indigene mit deutschen Einwanderer-Vorfahren. Ihr Großvater mütterlicherseits war Chippewa-Häuptling in North Dakota, ihr Vater arbeitete dort im Wahpeton Sioux-Reservat, aber indigene Sprachreste, die auch in der deutschen Übersetzung bestehen blieben, sind nicht Lakota (Sioux), sondern Potawatomi und Ojibwe. Sie empfindet ihre weiß-indigene Herkunft sehr bewusst und widmet sich in ihren Büchern vornehmlich diesem Spannungsfeld – kein Wunder, dass sie nicht zu schreiben aufhören kann, denn der schmerzhafte, bis zur Fast-Vernichtung der Indigenen betriebene kolonisatorische Zusammenstoß ist nicht beendet und kann nicht zu Ende geschrieben werden.

Wie soll man das Buch nennen? Eine Spukgeschichte, verwoben mit der Corona-Pandemie und dem Aufstand schwarzer und indigener Menschen gegen die Polizeigewalt, die den Mord an George Floyd verursachte? Eine Liebesgeschichte, bei der die Hauptfigur just den Polizisten heiratete, der sie einst festnehmen musste? Tookie hatte unwissentlich eine mit Drogen präparierte Leiche bei sich – die Frage, wie man mit Toten umgehen sollte, zieht sich durch das ganze Buch und kulminiert im Manuskript einer lebenslang misshandelten indigenen Frau 150 Jahre zuvor. Dieser brisante handgeschriebene Text wird zwar erwähnt, aber nicht zitiert, und die spukende Flora, die sich als indigene Wannabe (Möchtegern – bisweilen ist die Übersetzung arg deutsch) in Tookies Körper einnisten will, kommt erst zur Ruhe, als Tookie sich bei ihr widerwillig bedankt, dass Flora einst Tookies indigene Mutter bei sich aufgenommen hatte. Damit ist Tookies Leben von der weißen Flora gerettet worden, ausgerechnet. „Miigwech aapii, Flora“, Danke. Wie schrecklich ist das denn … und alles dreht sich im Kreis.

Das Buch endet … nicht, es endet mit der halbwegs haltbaren Identitätsberuhigung der Figuren – und mit einer Bücherliste aus Louise Erdrichs Buchhandlung. Damit könnte man Jahre lang weitermachen.

Louise Erdrich "Jahr der Wunder" Deutsch von Gesine Schröder. Aufbau Verlage, Berlin 2023. 462 Seiten, 26 Euro.

Freie Autorin MM Kulturredaktion 1974-2001, Fachgebiet Bildende Kunst

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