Für seine Coming-of-Age-Story „Drømmer“, deutscher Titel „Oslo Stories: Träume“, wurde der norwegische Regisseur Dag Johan Haugerud auf der Berlinale mit dem Hauptpreis, dem Goldenen Bären belohnt. Als finaler Teil seiner „Oslo“-Trilogie wurde das Drama angekündigt; für Verwunderung sorgte der Regisseur, als er verkündete, dass die drei Filme – „Sehnsucht“ (Start: 22. Mai), „Liebe“ (Start: 17. April) und „Träume“ (Start: 8. Mai) – außerhalb des Herstellungslandes in anderer Reihenfolge starten würden. Was im Prinzip vollkommen egal ist, gibt es doch weder eine durchgehende Handlung noch – bis auf eine Ausnahme – wiederkehrendes Personal. Frei nach Nouvelle-Vague-Revoluzzer Jean-Luc Godard, der anmerkte, dass ein Film zwar einen Anfang, eine Mitte und ein Ende haben sollte, jedoch nicht unbedingt in dieser Anordnung.
Der Titel ist dabei Programm – wie einst bei Ulrich Seidls „Paradies“-Dreispänner oder der „Gespenster“-Trilogie von Christian Petzold: Die norwegische Hauptstadt bildet die verbindende Kulisse der drei ansonsten eigenständigen Arbeiten. Oslo ist somit nicht nur Schauplatz, sondern vielmehr ein Symbol für das Leben in einer westlichen Großstadt mit all ihren sozialen Milieus, Vorzügen und Herausforderungen. Wie frei sind die Charaktere wirklich? Inwieweit prägt die Stadt ihre Identität? Diese Fragen versucht Haugerud, immer sein eigener Drehbuchautor, zu erkunden, indem er seine Charaktere in deren Alltag beobachtet – nahbar und authentisch.
Die Spielarten der Liebe und das menschliche Innenleben
Seine Helden sind „normale“ Menschen mit Wünschen und Hoffnungen, Sorgen und Nöten. Wie in „Liebe“ Marianne (Andrea Bræin Hovig), eine pragmatische Ärztin, und Tor (Tayo Cittadella Jacobsen), ein einfühlsamer Krankenpfleger, die beide konventionelle Beziehungen meiden. Eines Abends, nach einem Blind Date, treffen sich die beiden zufällig auf einer Fähre wieder. Tor, der seine Nächte häufig dort verbringt und flüchtige Begegnungen mit Männern sucht, erzählt der Frau von seinen Erfahrungen mit der spontanen Nähe. Und Marianne beginnt, sich mit dem Gedanken zu beschäftigen, ob diese Form der unverbindlichen Intimität nicht auch für sie eine Option sein könnte.
Oder die aufgeweckte Teenagerin Johanne (Ella Øverbye) in „Träume“, die sich zum ersten Mal verliebt – Hals über Kopf in ihre Sprachlehrerin Johanna (Selome Emnetu). Ihre intensiven Fantasien und Gefühle hält sie schriftlich fest. Als ihre Mutter (Ane Dahl Torp) und ihre Großmutter (Anne Marit Jacobsen) die Texte lesen, sind sie zunächst über den intimen Inhalt schockiert, erkennen aber das literarische Potenzial. Während sie darüber debattieren, ob Johanne ihre Miederschrift veröffentlichen soll, werden die drei Frauengenerationen mit ihren jeweiligen unerfüllten Träumen und Sehnsüchten konfrontiert.
Und nun „Sehnsucht“ mit zwei namenlos bleibenden befreundeten Schornsteinfegern (Thorbjørn Harr und Jan Gunnar Røise) als zentrale Figuren. Beide leben in monogamen, heterosexuellen Ehen, beide geraten unerwartet in Situationen, die ihre Ansichten über Sexualität und Geschlechterrollen infrage stellen. Der eine hat eine sexuelle Begegnung mit einem anderen Mann, ohne dies als Ausdruck von Homosexualität oder Untreue zu betrachten – und bespricht dies anschließend mit seiner Frau. Der andere wird von einem sinnlichen Traum über David Bowie aus der Bahn geworfen.
Dag Johan Haugerud
„Meine Filme sind wohl ein wenig von Nostalgie geprägt. Ich verbinde mit dem früheren Oslo eine Idee von Großzügigkeit . Vielleicht versuche ich mit meinen Filmen, das alte Oslo wiederzufinden“, erzählt Dag Johan Haugerud.
Er wurde 1964 im norwegischen Eidsberg geboren und ist als Drehbuchautor und Regisseur tätig. Seine Karriere begann Haugerud 1998 mit dem Vierminüter „16 levende klisjeer“.
Für sein Drama „Wie du mich siehst“ gewann er den norwegischen Filmpreis Amanda für den besten Film , die beste Regie sowie das beste Drehbuch.
Seine schwarze Komödie „Barn“ feierte 2019 auf den Filmfestspielen von Venedig Premiere, ebenso wie 2024 „Oslo Stories: Liebe“. „Oslo Stories: Sehnsucht“ lief 2024 im „Panorama“ der Berlinale, im Jahr darauf durfte der Regisseur an der Spree für „Oslo Stories: Träume“ den Goldenen Bären entgegennehmen.
Dag Johan Haugerud hat die bislang nicht ins Deutsche übersetzten Roman e „Noe med natur“ (1999), „Den som er veldig sterk, må også være veldig snill“ (2002), „Hva jeg betyr“ (2011) und „Enkle atonale stykker for barn“ (2016) verfasst. Obendrein ist er Bibliothekar an der Norwegischen Musikhochschule. geh
Um Liebe und Sex in seinen verschiedenen Spielarten geht es im weitesten Sinn, ums Empfinden, um das Innenleben. Klassisches Ingmar-Bergman-Terrain eigentlich, jedoch nicht so verkopft und gut nachvollziehbar. Pointiert sind die Dialoge, verschiedene Standpunkte werden erörtert, unterschiedliche Ansätze durchgespielt. Dabei bleibt der Ton stets gelassen, nie kommt es zum hitzigen Streit. Argumentiert wird stets – ob zwischen Alt und Jung oder im ungefähr gleichen Lebensalter – auf Augenhöhe. Für sinnvolle Argumente zeigt man sich offen.
Drama, Komödie und Tragödie wechseln sich ab, liegen eng beieinander. Menschen verändern sich, erfinden sich neu. Wie die Großstadt, in der sie leben. Ewig im Umbruch. Zwischen Baggern und Kränen, die Altes abreißen und Neues aufbauen.
Gekonnt, funktional – inklusive schöner Panoramaaufnahmen und virtuoser Schwenks – hält Kamerafrau Cecilie Semec das Geschehen in allen drei Teilen fest, stimmig, mit überzeugenden Darstellern sind alle Rollen besetzt. Was zur Allgemeingültigkeit des Themas passt. Niemand sticht hervor. Alle sind gleich. Realismus, gepaart mit Poesie. Das muss man erst mal schaffen.
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