Kahl ist er in Mannheim, der "dichtbelaubte Hain vor Dianens Tempel", wie ihn Goethe als einzigen Spielort vorgibt. Doch von kahl zu klar ist es ästhetisch nur ein kurzer Weg. Bühnenbildner Sascha Gross ist ihn für eine komplexe Vorgeschichte aus ferner Urzeit und fünf Schauspieler über fünf Akte gegangen. Und schnell lässt er uns erkennen, dass auch ein sparsamer Vorbühnenabend "edle Einfalt, stille Größe" vermitteln kann.
Wer sich wie Iphigenie "das Land der Griechen mit der Seele suchend" erinnert, wie schmerzhaft weiß Tempel in mediterraner Sonne gleißen, hat den Schritt von kahl zu klar ebenfalls vollzogen. In diesem antiken Labor der Humanität, das höchste Konzentration zulässt, werfen Menschen vielfach Schatten (Licht: Robby Schumann), und wir dürfen ohne Liedchen oder Mätzchen gebannt der Sprache Goethes und den Qualen der Figuren folgen.
Die Vorgeschichte ist kompliziert: Iphigenies Stammvater Tantalus hatte dereinst die Götter beleidigt, die ihn und seine Familie darauf mit einem Fluch belegten. Eine Reihe von Vater-, Mutter- und Brudermorden ist die Folge. Agamemnon wollte sogar seine Tochter Iphigenie schlachten, um guten Wind für seine Fahrt nach Troja zu bekommen. Göttin Diana aber entführt sie gnädig nach Tauris zu den Skythen und setzt sie dort als Tempelpriesterin ihres Heiligtums ein. Den dort herrschenden Brauch, jeden Fremden zu ermorden, kann die verflucht humane Iphigenie abschaffen. Die Verquickungen spitzen sich zu: König Thoas, wirbt um sie, während ihr Bruder Orest und sein Freund Pylades nach Tauris kommen. Apollo hatte ihnen geweissagt, dass der Fluch weichen werde, wenn sie die Schwester entführten. Erst hier setzt Goethes Paradestück des deutschen Idealismus ein.
Reines Seelendrama
Das Schauspiel, das Schiller "erstaunlich modern und ungriechisch" und Goethe selbst gegenüber Eckermann "reich an innerem, aber arm an äußerem" nannte, ist schon seiner Handlungsarmut wegen ein reines Seelendrama. Dieses aber spürbar zu machen, es über die Versschönheit zu erhöhen, ist Aufgabe der Schauspieler, die dieser Herausforderung unter Lisa Nielebock bestens gerecht werden.
Es gelingt Iphigenie, den Skythenkönig zum gewaltfreien Verzicht zu bewegen. Der Barbar (also der Nichtgrieche) wird nicht überlistet, sondern durch Iphigenies Seele und Ehrlichkeit gerührt. Was für ein Stoff! Der Thoas Klaus Rodewalds weiß, dass die ach so kultivierten Griechen letztlich nur zum Rauben von Vlies, Schönheiten, Gold oder Land reisen. Zynisch sind daher seine Bemerkungen zu "Barbarei" und Zivilisation. Er ist ein Liebender, ein mühevoll Beherrschter, einer dem es schwerfällt, persönliche Verletztheit nicht mit den Mitteln seiner Herrschermacht zu beantworten. Dieser Thoas hat seine Größe nicht als Göttergeschenk erhalten, er kämpft um sie, womit Klaus Rodewald den Kern des Humanisierungsprozesses und des Stückes mit darstellerischer Größe trifft. In Iphigenie glaubt er jenes höchste Gut reinen Menschseins gefunden zu haben, was des "Barbaren" Abschiedsopfer - "Lebt wohl!" - nahezu übermenschlich macht.
Dass dem pathetischen Ton an diesem Abend keine Bodenhaftung fehlt, liegt vor allem an Sabine Fürst. Ihre Titelfigur ist eine zeitlos junge Frau, "so frei geboren wie ein Mann", mit modernen Zügen zwischen Selbstbestimmtheit, Fluch und Konvention. Statt auf Turnen und Toben setzt sie auf Psychologie. Zudem beherrscht sie die Kunst, Variationen nicht zu exaltiert zu geben, nicht zu stark zu pointieren, nicht zu sehr abzuheben.
Menschliche Wärme gewährt die Regie auch Jacques Malan als dem klugen und freundlichen Arkas, während der todessüchtige Orest (Martin Aselmann), der hier nur reduzierte Wahnvorstellungen und eine gute Diktion hat, immer noch zu schnell an die Macht der Gewalt zu glauben bereit ist. Zusammen mit seinem (für diese Inszenierung) eine Spur zu stürmischen Freund Pylades (Peter Pearce) schlägt er gelegentlich über die Stränge. Eine sensationelle oder mutige ist Nielebocks Regiefassung nicht, aber - und das ist ihr Verdienst - auch fern von klassischer Überheblichkeit, was sie glaubhafter und menschlicher macht. Dafür applaudierte das Premierenpublikum lange und herzlich.
Lisa Nielebock kam 1978 in Tübingen zur Welt und studierte an ...
Lisa Nielebock kam 1978 in Tübingen zur Welt und studierte an der Folkwang-Universität Essen Regie.
Für ihre Diplominszenierung "Elektra" wurde sie mit dem Folkwangpreis 2004 und beim Wettbewerb Körber Studio Junge Regie am Hamburger Thalia Theater ausgezeichnet. Mit "Phaidras Liebe" von Sarah Kane wurde sie zum Regiefestival Radikal Jung eingeladen.
Seit 2005 ist sie Hausregisseurin am Schauspielhaus Bochum und inszenierte zudem in Essen und am Nationaltheater Weimar.
In Mannheim zeichnete sie bisher für Lessings "Emilia Galotti" (2006) und Grillparzers "Medea" (2008) verantwortlich. Die 2009 geplante Inszenierung von Heiner Müllers "Philoktet" musste sie wegen einer Schwangerschaft absagen. rcl
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