Mannheim. Die Kölner Band AnnenMayKantereit ist immer für Überraschungen gut: Mal spielt sie wie 2019 unangekündigt beim Mannheimer Maifeld Derby, dann ploppt plötzlich ihr Corona-Werk „12“ digital auf. Darüber spricht Sänger Henning May im Interview – überraschend offen.
Herr May, es schlug „12“ - und plötzlich erschien am 17. November um Mitternacht das dritte AnnenMayKantereit-Album unter diesem Titel digital, nun folgen LP und CD. Es scheint, es soll für eine neue Zeit stehen, in der es „keine Selbstverständlichkeiten mehr gibt“ und „nur geliehene Träume“ - richtig?
Henning May: Jeder kennt ja die Redewendung „fünf vor zwölf“. Es ist nicht mehr fünf vor, sondern wirklich zwölf. In allen Bereichen. Ob es nun darum geht, dass wir beide weiße Männer sind und versuchen sollten, zu verstehen, was das heißt - was unsere Privilegien sind. Inwiefern sind wir trotzdem noch rassistisch, obwohl wir uns viel Mühe geben? Merke ich eigentlich noch Sexismus an mir, obwohl ich mich bemühe, dagegen anzukämpfen? Oder welche unausgesprochenen Verpflichtungen es für jemanden wie mich gibt, der in der Öffentlichkeit steht. Es kann aber auch Klimawandel sein, racial profiling oder die Morde an europäischen Außengrenzen. Es ist einfach zwölf und jeder ist gefragt. Jeder, der das nicht sagt, spielt den Leuten in die Hände, die zum Beispiel in Berlin für die falsche Sache auf die Straße gehen. Die Metapher hat für mich auch damit zu tun, dass die zwölf zwar das Ende des Tages ist, aber auch der Anfang eines Kreislaufs. Dieses Gefühl wollte ich auf den Punkt bringen.
Also das Ende eines Zyklus’ als neue Chance…
May: Wir werden Dinge zurücklassen müssen, die wir lieben. Das wird sehr traurig und schlimm. Es werden aber auch Dinge zurückbleiben, die wir hassen. Das wird super. Und in der Zukunft liegen Dinge, die wir nicht gut finden. Aber auch ein paar, die viel besser sein werden als es jemals war. Deswegen ist es ambivalent für mich, wenn ich singe „So wie es war, wird es nie wieder sein“. An einer Stelle singe ich danach ganz laut „Yes!“, denn: Es ist auch gut.
Was zum Beispiel?
May: Dass ich nie wieder an einem Restaurant vorbeigehe, dass „Mohrenkopf“ heißt und ich den Namen toleriere. Wir leben in einer neuen Zeit. Auch viele von uns Männern haben es jetzt mal gecheckt. Aber es gibt auch eine andere Seite: Noch nie in der Nachkriegszeit war die Rechte so stark. Und wenn Union und AfD zusammen eine Mehrheit hätten, beginnt irgendwo das Gerede: „Warum hat die bürgerliche Mitte nicht die Eier, zusammen zu regieren?“ Denn auch in der CDU gibt es viele ganz Rechte, die eigentlich in der falschen Partei sind. Ich würde mir wünschen, dass wir da von ähnlich vielen Parteiausschlussverfahren hören würden, wie wir es zurzeit bei der AfD erleben.
Dass Sie wie im bisher letzten Konzert in der SAP Arena vor einem Menschenmeer auftreten können, ist für AMK fast selbstverständlich gewesen. Wann denken Sie, können Sie das nächste Mal dort auftreten - vor 10000 oder mehr Menschen? Wieviel Hoffnung machen Ihnen die Impfstoffe?
May: Das war dort das letzte Konzert? Ich versuche, mich immer gut zu informieren und habe alles über die Impfstoffe und die Regularien zusammengesucht. Wann werden die freigegeben, wie es mit den Kühlketten? Wann ist Deutschland durch, wenn wir am Tag 100000 Leute impfen können? Das kann bis zu vier Jahre dauern….Ich glaube, wir werden auch in drei Jahren noch Masken tragen und Super-Spreading-Events vermeiden. Der Virus verändert sich ja auch, das ist ganz normal. Das ist das Ergebnis meiner persönlichen Analyse der Situation. Natürlich bin ich kein Wissenschaftler und interpretiere nur, was ich mir erarbeitet habe. Ich will halt so schnell wie möglich wieder auf Tour, deshalb nerde ich das Thema. Natürlich suche ich dabei nach etwas, das mir sagt: Nächstes Jahr ist wieder alles möglich. Aber ich finde es nicht. Alles spricht dafür, dass wir noch sehr lange mit Testen, Masken und einer Teilimpfung der Bevölkerung zu tun haben werden. Und wenn wir vor 4500 Leuten mit einem perfekten Hygienekonzept in der Berliner Wuhlheide spielen, und nur zwei Leute halten sich nicht an die Regeln und hüpfen über die Stühle - dann haben wir vielleicht ein Superspreading-Event, für das ich mit meinem Namen stehe.
Wie werden AMK-Konzerte dann 2021 aussehen?
May: Unter bestimmten Bedingungen werden im Sommer größere Konzerte möglich sein, wahrscheinlich viel weniger als wir das kennen. Aber es wird noch viel Zurückhaltung geben, sowohl seitens der Konzertbesucher als auch seitens der Veranstalter.
Und absoluter Normalbetrieb?
May: Wenn ich eine ehrliche Antwort darauf geben soll, wann ich erwarte, vor 75000 Leuten beim Hurricane-Festival zu stehen und durch die geteilte Menge zu laufen - das dauert noch sechs bis sieben Jahre, schätze ich
Sie singen im Zusammenhang mit dem Blick auf eine Zuhörermenge von „ozeanischem Gefühl“. Wie sehr fehlt Ihnen das?
Wobei man über die Jahre den Eindruck hatte, dass Sie ein sehr zwiespältiges Verhältnis zur großen Öffentlichkeit und den damit verbundenen Erwartungen haben. Das Kreuz eines „Messias mit dem Mikrophon“ tragen Sie nicht gern, oder?
May: Ich bin da tatsächlich sehr gespalten. Mir ist es ein paar Mal passiert, dass ich dachte: „Ich kann nicht auf die Bühne, ich kann da nicht schon wieder hingehen. Die sehen alle was, was ich nicht bin. Ich kann auch niemanden retten, ich hab’ genug eigene Probleme.“ Auf der anderen Seite bin ich auch der Mensch, der sich vor 10000 Leute stellt und sie vor dem Konzert noch mal kurz rausschickt, weil mein Produktionsleiter die Trasse neu aufhängen muss. Diese beiden Seiten gehen irgendwie nicht in meinen Kopf rein, denn ich suche immer nach Eindeutigkeiten in mir selbst: „Ich bin so - oder ich bin so.“ Aber ich finde sie nicht so richtig. Ich genieße es, der Typ mit dem Mikro auf dieser riesigen Bühne zu sein und liebe es wie nichts Anderes. Aber nichts Anderes in meinem Leben tut mir so weh und verlangt mir so viel ab. Und nichts anderes hat mein Privatleben so zerstört.
Es gibt ja viele Beispiele, dass große Tourneen nicht gesund sind. Vor allem für Sänger, die sich nicht hinter Instrumenten verstecken können und jedes Mal eigentlich unfassbar vielen Menschen mit dem Herz auf dem Silbertablett den Abend ihres Jahres liefern sollen. Die Zwiespältigkeit, die Sie dabei empfinden, macht dabei genau die Qualität aus, die Fans anzieht und authentisch finden.
May: Dankeschön, das hoffe ich sehr. Ich habe das Problem, dass ich das ein Stück weit weiß - dass das, was mich kaputt macht, mich auch immer inspiriert. Ich darf mich nur nicht kaputtmachen (lacht).
Dann war die Zwangspause durch die Pandemie vermutlich auch mal gut nach intensiven Jahren unterwegs?
May: Mir hat diese Pause vom Hamsterrad sehr gut getan. Auch wenn ich das zuerst nicht verstehen konnte, weil ich diese Tour im März so vermisst habe und geschockt war. Ich habe lange nicht mehr fast keinen Alkohol über einen langen Zeitraum getrunken, ich habe lange nicht mehr so viel Sport gemacht und mich so rausgenommen.
Also wieder gespalten?
May: Für dieses merkwürdige Gefühl finde ich manchmal außerhalb der Lieder kaum Worte: Dass mein zentraler Lebensmittelpunkt plötzlich weg ist und es sich ganz schrecklich anfühlt - aber auch irgendwie ein bisschen gut. Das kann man vielleicht mit einer kurzen Trennung vergleichen. Man weiß, man kommt wieder zusammen und es tut unheimlich weh, dass man gerade nicht zusammen ist. Aber nach zehn Jahren mal ohne dich in den Urlaub zu fahren, ist schon cool….
Ihnen gelingen in Ihren Texten oft Postersätze. Laufen die Ihnen einfach zu, qua Talent - oder stapeln sich irgendwo Tonnen von Notizen?
May: Jetzt habe ich mal die Gelegenheit arrogant zu sein, das finde ich gut: Ich glaube, ich bin einer der besten Freestyler Deutschlands. Es gibt wenig Leute, die spontan so mit Texten arbeiten können wie ich - als Lied. Ich muss viel spielen und frei am Klavier sitzen, um zu Ideen zu kommen und die dann ausreifen zu lassen. Oft weiß ich gar nicht, wie das passiert, und manchmal weiß ich’s genau. „Die letzte Ballade“ ist das letzte Lied auf dem Album. Während ich das geschrieben habe, habe ich nicht einmal nachgedacht. Auf den Zetteln kann man sehen, dass ich eine Strophe gestrichen habe, dann war der Text fertig - in gefühlt nicht mal einer Stunde. Dann habe ich vier Wochen lang versucht, ihn besser zu machen und bin gescheitert. Ich habe also noch nichts geändert. Aber man muss es üben, dass einem Dinge zufliegen und unheimlich viele Werkzeuge im Kopf haben, die du spontan anwenden kannst. Reime vor allem. Das liebe ich sehr beim Arbeiten.
Was sehen Sie selbst als Satz, den man auf Poster, T-Shirts oder Wohnzimmerwände drucken könnte?
May: Für mich ist einer dieser Postersätze zum Beispiel „Ich kann nicht in die Zukunft schauen, nur in die Vergangenheit“. Oder „Die Gelder fließen, die Tränen auch. Woher sie plötzlich kommen, weiß niemand so genau.“ Warum laufen die Tränen eigentlich ausgerechnet aus den Augen? Warum sind wir gerade so emotional und müssen plötzlich weinen? Es gibt da natürlich einen offensichtlichen Grund: Wir haben kaum noch Gemeinschaft, sind total viel alleine, das ist nicht gut für uns. Aber wo waren die ganzen Tränen und die gefühlvollen, netten Menschen vorher? Und woher kommen plötzlich die ganzen Gelder? Jahrelang hieß es „Klimawandel? Dafür haben wir kein Geld!“ Und plötzlich haben wir soviele Milliarden für die Kfz-Branche, die Luftfahrt - die waren vorher für die wichtigsten Dinge nicht da.
Sie singen „Ich glaube Corona ist größer als der Mauerfall und Jesus zusammen“ - für einen ähnlichen Satz hat John Lennon 1966 einen Vorläufer der heutigen Shitstorms geerntet. Ist das als Provokation gedacht?
May: Ich freue mich so, dass Sie das fragen! Genau deshalb habe ich den Satz geschrieben. Ich bin großer Beatles-Fan. Nach diesem Interview, in dem John Lennon „We are more popular than Jesus now“ sagte, wurden ja sogar Beatles-Platten von Christen verbrannt, weil er was Schlimmes über Gott gesagt hat. Ich musste total dran denken, dass es aus dem Selbstverständnis zumindest der katholischen Kirche nichts Größeres oder Berühmteres gibt, als Gott und Jesus. Es gibt berühmtere Dinge. Für mich ist auch der Satz wichtig „Ich kann nicht in die Zukunft schauen, nur in die Vergangenheit“. Jesus und der Mauerfall sind zwei wichtige Dinge aus der Vergangenheit, die wir nicht vergessen dürfen, zum Teil aber hinter uns lassen müssen. Das muss einfach mal vorbei sein. Und wenn nur die Vorstellung Geschichte ist, dass Jesus ein weißer Mann ist, und wir sagen: „Wir wissen nicht, wie er aussieht.“ Die Ungerechtigkeiten gegen die neuen Bundesländer muss auch irgendwann mal ein Ende haben - also das mangelhafte Internet, die Infrastruktur, der Solidaritätszuschlag, der immer wieder mal abgeschafft werden soll - was auch immer. Da wurden Millionen Menschen um ihren Besitz gebracht. Jesus und der Mauerfall sind für mich zwei essentielle Elemente aus unserer Geschichte, die wir nicht vergessen, aber mal hinter uns lassen sollten. Und jetzt machen wir mal weiter mit dem nächsten Thema: Corona. Das ist berühmter als die beiden zusammen, was auch seinen Grund hat. Das zu singen war für mich wegen diesem John-Lennon-Satz so wichtig. Aber ich habe absolut nichts gegen praktizierende Christen und habe auch viele in meinem privaten Freundeskreis. Nur religiöse Verklärung, der Zusammenhang von Jesus und der Vorstellung von White Supremacy, aber auch von Mauerfall und dem Erstarken der Rechten, sind für mich offensichtlich. Deshalb wollte ich auf den Punkt bringen: „Es gibt jetzt dieses eine Thema Corona und das überstrahlt alles.“ Und dass das auch irgendwie etwas Gutes hat.
Bei Kollegen wie Wolfgang Niedecken klingen oft die christlichen Tugenden Glaube, Liebe, Hoffnung an…
May: Bei mir können Sie da Glaube und Hoffnung streichen.
Dann wundere ich mich über die realistische, letztlich aber positive Grundhaltung, die das quasi unter einem Pandemie-Schock entstandene Album „12“ durchzieht. Wo nehmen Sie ohne Hoffnung und Glauben die Akzeptanz für die Situation her, die speziell für Musiker zum Verzweifeln ist ?
May: Mein Pragmatismus kommt daher, dass man mir diese Perspektive immer sehr aufgedrängt hat. Meine Großmutter ist ein unglaublich pragmatischer 97-jähriger Mensch, der alles gesehen hat. Mein Vater hat auch durchaus Dinge im Leben verloren, wodurch auch ich etwas lernen konnte. Daraus folgt: Es muss weitergehen, und ich muss das tun, was ich tun kann. Wenn ich über das Flüchtlingslager Moria singe, wird das nichts verändern. Das habe ich gemerkt. Wenn ich mich für Moria einsetze, reicht es nicht. Ich kann nur mit Tropfen gegen heiße Steine kämpfen. Aber deswegen darf ich ja nicht aufhören. Das versuche ich, mir vor Augen zu halten - und daraus schöpfe ich Pragmatismus und Akzeptanz. Wenigstens kann ich Tropfen auf heiße Steine werfen und verbrenne nicht nur einfach. Er mag winzig klein sein, aber kurz habe ich einen Effekt damit.
Wenn kluge Köpfe hinter einem Mikrophon stecken, haben Sie gerade heute durchaus die Verantwortung, ihre Reichweite zu nutzen. Da reicht es nicht wie bei uns Normalbürgern, ordentlich den Müll zu trennen und die Kinder vernünftig zu erziehen. Das machen AnnenMayKantereit in meinen Augen sehr gut und relativ subtil. Dosieren Sie politische Inhalte bewusst eher sparsam?
May: Natürlich. Ich habe ja auch Wochen Zeit, über diese Lieder nachzudenken. Bei „So laut so leer“ schreibe ich ja ganz bewusst an mich selbst, und nicht an Frau Merkel: „Phrasen, Versprechen, Parolen - so laut, so leer“. Die nicht zu produzieren, muss ich mir erstmal selber beibringen, bevor ich andere belehre. Ich bin schon auch ganz gut darin, mich selbst zu belügen und mich zu überschätzen.
Haben Sie das Gefühl, aufpassen zu müssen, nicht in so eine Rolle wie Campino zu rutschen, der eigentlich nie darum gebeten hat, der ewige Moralapostel des Deutschrock zu sein? AnnenMayKantereit werden ja auch gern als Sprachrohr der Generation X, Y oder Z bezeichnet?
May: Davor habe ich Angst, ja, Ich würde gern kein Campino werden. Ich bewundere ihn und glaube, dass es Leute wie ihn braucht. Aber ich wäre nicht glücklich in seiner Position, weil er einfach der politisierteste Künstler Deutschlands ist. Da möchte ich nicht sein.
Er ist ja selbst nicht glücklich damit.
May: Was heißt „Er ist nicht glücklich damit“? So etwas macht einfach unglücklich. Für mich ist sehr wichtig: Ich möchte nicht, dass Menschen themenbezogene Erwartungen an mich haben. Wenn jetzt viel über Politik in meine Texte einfließt - ich kann nur über das schreiben, was ich fühle, und zu dem ich Zugang finde. Alles andere kann man nicht erzwingen. Ich hatte zum Beispiel immer das Bedürfnis, ein schönes Lied darüber zu schreiben, wie sich meine Heimatstadt Köln für mich manchmal anfühlt. Aber erst, als ich aus Köln weggezogen bin, habe ich verstanden, was diese Stadt mir wirklich bedeutet. Erst dann konnte ich das Lied „Tommi“ schreiben. Das hätte ich vorher noch so oft probieren können. Aber ich würde gern noch einmal auf die Formulierung „Messias am Mikrophon“ zurückkommen.
Nur zu.
May: Ich kenne mich selbst eigentlich ganz gut. Ich mache Fehler. Ich bin auch manchmal eine Person mit hohem Sendungsbewusstsein. Ich provoziere manchmal - auch absichtlich. Und ich habe die Angst, dass, durch eine Verklärung meiner Person, Leute vergessen könnten, dass ich auch negative Seiten habe - und dass das auch dazugehört. Dass ich einfach mal sage „Ich kann dich nicht leiden, lass mich in Ruhe.“ Dass ich nicht nur ein netter Mensch bin. Wer ist das schon? Ich schaffe das nicht, sieben Tage die Woche 24 Stunden lang nett zu sein. Davor habe ich Angst, auch weil ich lernen musste, wie leicht ich in meiner Rolle als öffentliche Person Menschen verletze.
Zum Beispiel?
May: Wenn ich im Restaurant sage „Ich will jetzt kein Foto machen, ich esse gerade“ - und dann fängt sie an zu weinen. Das ist einfach … so ein konstanter Druck.
Als musikalische Einflüsse der jüngsten Zeit nannten Sie die letzten Alben von Leonard Cohen oder Johnny Cash - regelrechte Todesplatten alter weißer Männer… hören AMK eigentlich auch noch neue Musik?
May: Wir mögen alle den Geschmack der anderen. Aber wir hören alle komplett unterschiedliche Musik. In meiner Wahrnehmung ist Severin der Sucher, der neue Sachen findet. Chrissie ist eigentlich der Wissende, der das größte Lexikon über Musik im Kopf hat. Das liegt auch an seinem Vorstudium Klassische Gitarre. Ich bin eher der Typ, der Inselwissen hat. Ich weiß alles über die Beatles. Oder kenne meinetwegen alle Alben von Taylor Swift, kenne die Songs und habe natürlich ihre App. Ich suche, was ich dann studiere. Dadurch habe ich aber auch manchmal krass blinde Flecken. Mir passiert es relativ häufig, dass ich die Band nicht kenne, die gerade jeder feiert. Mein Musikgeschmack ist eher in die Vergangenheit gerichtet. Ich liebe einfach tiefe Stimmen jeder Art. Und die sterben aus.
Das dürfte einen Teil der Faszination ausmachen, die Sie auslösen. Immerhin wachsen Sie langsam aus der Rolle der Jahrmarktattraktion mit der Seebärenstimme und dem Kindergesicht raus…
May: Deswegen schocke ich manchmal Menschen so. Wenn wir Straßenmusik machen, steht da oft jemand mit offenem Mund und fragt: „Warum singst Du so tief? Du siehst aus wie ein Vierzehnjähriger!“
Wie kamen Sie auf Markus Ganter als Produzent - über Casper, Tocotronic oder um ein paar Ecken durch einen Popakademiekontakt?
May: Wir haben uns vor dem zweiten „Schlagschatten“ mit verschiedensten Leuten getroffen. Wir waren zwar superzufrieden mit Moses Schneider, der „Alles nix Konkretes“ produziert hat. Aber wir wollten keine Liveaufnahmen machen. Moses ist wie ein Fußballtrainer. Der schickt dich ins Studio und sagt „Wir spielen 4-4-2, rockt das Ding!“ Da ist er der Beste drin. Wir haben eher jemanden gesucht, der nicht live aufnimmt, Piece by Piece, Spur für Spur. Und der jung genug ist, um von uns richtig verwirrt zu werden. Markus hat uns dann einfach den besten Song vorgespielt, als wir wissen wollten, wie unser nächstes Album klingen soll. Es war „Heart It Races“, im Original von Architectures In Helsinki - und mit Abstand der Beste.
Was zeichnet Ganters Arbeitsweise aus?
May: Ich habe noch nie mit einem Produzenten gearbeitet, der uns so ermutigt, ihm die Arbeit wegzunehmen. Die Art und Weise, wie er Severin und Chrissie - ich kann das gar nicht - darin eingeweiht hat, Songs vorzuproduzieren, hat dazu geführt, dass wir für dieses Album eigentlich mit der fertigen Platte auf Markus zugegangen sind. Das hat er uns ermöglicht - in dem langen Prozess vor „Schlagschatten“. Das ist einfach toll. Wobei ich das Gefühl habe, die beiden anderen sind in den vergangenen anderthalb Jahren schneller gerannt als ich. Ich kann immer noch texten und Klavier spielen (lacht).
Wobei ich finde, dass Bands wie AnnenMayKantereit oder Feine Sahne Fischfilet massiv an Charme einbüßen würden, wenn sie sich überprofessionalisieren und plötzlich technisch perfekt klingen würden. Bei Ihnen ginge dann das chansonhaft Schaukelnde verloren…
May: Das sehe ich genauso. Ich habe keine Lust, Musik nur für Musiker zu machen. Es war immer klar: Wir sind keine Virtuosen, wir sind nicht Igor Levit. Ich würde gern Musik machen und Lieder schreiben, die ich sowohl im Stadion als auch auf der Straße spielen kann. Das kriegen wir auch hin. Ich habe bisher das Gefühl, dass ich jedes Lied, das wir auf der großen Bühne gespielt haben, eins zu eins in der Fußgängerzone performen könnten.
Sie sind nicht nur eine Identifikationsfigur für viele Ihrer Altersgenossen und Jüngere, AMK erreichen auch ein älteres Publikum. Ältere Lieder wie „Oft gefragt“ wecken sogar, Vatergefühle, was in der Rockmusik eher selten ist. Wie hält Ihr Vater diese intensive Liebeserklärung emotional aus - kann er es überhaupt anhören, ohne von Tränen überströmt zu werden?
May: Ich habe das Lied meinem Vater das erste Mal vorgespielt, als ich ausgezogen bin. Wir haben in einer ganz kleinen Wohnung zusammen gelebt, ich in einem Durchgangszimmer. Direkt vor meinem Fenster stand ein riesiger Baum, man hat eigentlich nichts Anderes gesehen. Kein Witz: Am Tag, als ich ausgezogen bin, wurde der Baum gefällt. Dann hat sich mein Vater ans Fenster gesetzt und ich habe gesagt: „Vati, setz dich mal, ich spiel dir jetzt ein Lied vor.“ Ich glaube, dieser Moment gibt mir auch selbst immer wieder die Chance, mich zu emotionalisieren, wenn ich dieses Lied spiele. Und ich habe dieses Lied noch nie in Anwesenheit meines Vaters gespielt, ohne dass er Rotz und Wasser geheult hat. Ich glaube, es ist für ihn nicht möglich, dabei die Vergangenheit auszublenden und zu sagen „Heute bin ich einfach nur hier, um zu sehen wie sich alle freuen.“ Das sind immer drei Minuten Achterbahnfahrt.
Was bedeutet Ihnen das Lied?
May: Was mich bis heute an diesem Lied so begeistert und warum „Oft gefragt“ für mich immer eins der größten Lieder bleiben wird, auch von der Qualität her und egal, wie simpel es sein mag: Ich hab das Lied einfach nur für ihn geschrieben. Es gab noch keine Band, ich hatte Klavierunterricht und konnte ein bisschen Texten. Das war alles. Ich habe mir dabei gar nichts gedacht und einfach nur dieses Lied geschrieben - das ist für mich das Schönste. Ich hatte gar nicht vor, Musiker zu werden, sondern Lehrer. Wollte studieren, hatte aber auch keinen Bock. Und Fußballer würde ich auch nicht mehr werden, das war klar. „Oft gefragt“ und „Nicht nichts“ kamen auch beim Schreiben von „12“ immer wieder hoch. Ich würde niemals Lieder von mir selbst alleine am Klavier spielen. Aber während dieser Aufnahmen saß ich manchmal da, und habe alte Lieder von uns gespielt. Weil ich das Touren vermisst habe, diese Lieder und diese Zeit. Dann hatte ich einen schönen Moment mit „Oft gefragt“ allein im Studio. Da kam dann irgendwann kurz die Stimme von Markus: „Schön!“ Das war toll.
Was nicht nichts ist, denn Ganter neigt nicht unbedingt zum Überschwang und hat schon viel gehört.
May: Das stimmt, sehr schön gesagt. Das ist auch wieder etwas Komisches: Für mich hat noch nie jemand ein Lied geschrieben. Ich weiß also gar nicht, wie sich das anfühlt.
Henning May
- Der Sänger wurde am 13. Januar 1992 als Henning Gemke in Köln geboren und wuchs mit seinem Bruder beim alleinerziehenden Vater auf.
- 2011 gründete er mit seinen Mitschülern Christopher Annen (Gitarre) und Severin Kantereit (Schlagzeug) die Band AnnenMayKantereit.
- Ihr von Popakademiker Markus Ganter produziertes Album „12“ erscheint am 27.11. als CD und LP.
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