Schauspiel - Lukas Bärfuss’ Auftragswerk „Der Elefantengeist“ geht hart mit dem Altkanzler ins Gericht / Für die Uraufführung gibt es kräftigen Applaus

Helmut Kohl schwebt über allem

Von 
Jörg-Peter Klotz
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Der Geist im Kanzlerbungalow verwandelt die Archäologen (von links) Dr. Martin (Martin Weigel), Dr. László (László Branko Breiding) und den zu Helmut Kohl mutierenden Expeditionsleiter Dr. Matthias (Matthias Breitenbach) zu Anzugträgern der Bonner Republik. Im Hintergrund Musiker Karsten Süßmilch. © Kleiner

Mannheim. Ein Theaterstück über den 2017 verstorbenen „Kanzler der Einheit“ am Mannheimer Nationaltheater, keine zehn Kilometer vom Oggersheimer Lebensmittelpunkt Helmut Kohls entfernt. Das klingt gewagt. Aber wer einen Theaterskandal erwartet hat, wird enttäuscht. Nach der Uraufführung von „Der Elefantengeist“ überwiegen langanhaltender Applaus und vereinzelte Bravo-Rufe. Nur ein – sehr lautes – Buh muss der Autor Lukas Bärfuss erdulden, als er zu den ausdauernd gefeierten Schauspielern und dem Produktionsteam um Regisseurin Sandra Strunz stößt. Angesichts der Brisanz, die Leben und Werk des Altkanzlers bieten, aber vor allem der nicht nur landsmannschaftlichen Nähe vieler Kurpfälzer zu Kohl (1930-2017) und seiner Frau Hannelore (1933-2001), ist die Resonanz bemerkenswert positiv.

Ohne Samthandschuhe

Denn das vom neuen Schauspielintendanten Christian Holtzhauer für das Eröffnungswochenende seiner ersten Spielzeit in Auftrag gegebene Stück nähert sich dem Lebenswerk Kohls ohne Samthandschuhe. Aber Bärfuss ist kein plumper Provokateur. Wer seinen aktuellen Essay-Band „Krieg und Liebe“ kennt, weiß, wie differenziert und hellsichtig er analysiert. Als Schweizer kann er sich dem so polarisierenden wie prägenden Politiker auch neutraler nähern, als das deutschen Dramatikern möglich wäre, die Kohls 16-jährige Kanzlerschaft miterlebt haben.

So schafft schon die Erzählsituation Distanz: In einer utopischen Zukunft, irgendwann nach „der Großen Einsicht“ tänzeln sieben Archäologen durch knöchelhohen Nebel zu den Klängen von John Cages „In A Landscape“. Die von Bühnen- und Kostümbildnerin Sabine Kohlstedt minimalistisch, aber effektvoll gestaltete Landschaft besteht aus einer Ruine in der vergessenen Bundeshauptstadt Bonn. Die hellgraue, uniformartige Kleidung der Forscher ist klinisch rein. Wie ihre Werte: Freundschaft, Transparenz, Wohlwollen. Das Setting erinnert an eine Expedition des Raumschiffs Enterprise – oder an einen Horrorfilm, in dem ungute Geister geweckt und befreit werden.

Die Archäologen unter der Leitung von Dr. Matthias (Mattias Breitenbach), der schon Rothenburg ob der Tauber ausgegraben hat, machen am Rhein eine sensationelle Entdeckung: den Kanzlerbungalow. Wie sie ihr Wissen über dessen Epoche austauschen, ist zunächst amüsant. Matthias’ Stellvertreter Dr. Martin (Martin Weigel) urteilt lakonisch: „Das zwanzigste Jahrhundert. Was die Kultur betrifft, nicht gerade üppig. Viel Massenware von übler Qualität.“ Der etwas ältere Dr. Jacques (Jacques Malan) bewertet schärfer: „Das zwanzigste Jahrhundert war nicht nur, was die Politik betrifft, die gewalttätigste, blutigste und wahnhafteste Ära dessen, was wir Menschheitsgeschichte nennen (…) eine ungeheuer freudlose Zeit.“ Langsam verstummen die leisen Lacher im Saal.

Noch stiller wird es, als ein „verfaultes Buch“ Auskunft über die letzten Bewohner des Hauses gibt: den sechsten Bundeskanzler, seine Frau und die Söhne, die namentlich im ganzen Stück alle nicht genannt werden. Die Rahmenhandlung um die Archäologen tritt mehr und mehr zurück. Der unheilvolle Geist aus der Vergangenheit scheint von ihnen Besitz zu ergreifen. Als Erster besudelt sich Dr. Eddie (Eddie Irle). Er berauscht sich an alten Abenteuerideen und betritt entgegen seinen Anweisungen allein den unheimlichen Bungalow, aus dem Lichter, seltsame Töne (die Musiker Karsten und Rainer sorgen immer wieder für gespenstische Atmosphäre) und Schattenspiel-Projektionen von Elefanten und später rauchenden Anzugträgern nichts Gutes ahnen lassen.

Dieser ungewohnte Anflug von Chaos bringt Dr. Martin dazu, die Hierarchie in Frage zu stellen: Mal trommelt er auf seiner Brust wie ein junger Silberrücken, dann redet er plötzlich wie Kohls Rivale Franz-Josef Strauß. Sein Chef Dr. Matthias und dessen abenteuerlustige Frau Johanna (auf Anhieb Publikumsliebling: Johanna Eiworth) ähneln mehr und mehr dem Kanzlerehepaar, während der junge Dr. László (László Branko Breiding) auch mal lautstark Theorien der RAF-Terroristen zitiert.

Die Lage spitzt sich im Streitgespräch zwischen dem allmählich zu Wolfgang Schäuble mutierenden Martin und Matthias/Kohl zu, in dem Vorwürfe zu rücksichtslosem Machtinstinkt, Flick- und Parteispendenaffäre zu einer wuchtigen Anklage aufgekocht werden. „Der Kanzler nahm das Geld von seinem Freund, der das Geld von den ermordeten Juden gestohlen hatte. Dieses Geld gab ihm die Macht. (...) Sein Weg wurde freigekauft“, skandiert der eine. „Eine Räubergeschichte“, nennt das der Andere. Schließlich tritt Matthias zurück, an Martin zieht – nun im Merkel-Kostüm – die stets korrekte Dr. Viktoria (Viktoria Miknevich) vorbei.

Die parabelhafte Erzählweise funktioniert, weil das Stück bei aller Ernsthaftigkeit und Schärfe stets unterhaltsam bleibt, und schon in der Pause Diskussionen auslöst. Schließlich setzt Bärfuss nicht nur Dr. Kohl auf die Anklagebank, sondern auch unsere Art und Weise, als Gesellschaft zu leben.

Spielwiese für starkes Ensemble

Dazu kommt: Regisseurin Strunz macht aus der Vorlage eine regelrechte Spielwiese für Schauspieler. Sie dürfen tanzen, singen, blödeln, turnen, küssen, kabarettistische Pointen setzen und deklamatorische Kurz-Monologe halten. Das genießen die sieben Darsteller sehr, vor allem die Präsenz von Eiworth und Breiding sowie die Wandlungsfähigkeit von Breitenbach beeindruckt. Ob der bittere Ernst und teilweise groteske, klamaukige Zuspitzungen vor allem im zweiten Teil von einem schwächeren Ensemble auch zusammengehalten werden können, ist aber zweifelhaft.

Info: Fotostrecke unter morgenweb.de/ntm

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Der Autor: Lukas Bärfuss

Romancier, Dramatiker und Dramaturg Lukas Bärfuss wurde am 30. Dezember 1971 im schweizerischen Thun geboren. Nach neun Jahren Primarschule arbeitete er in diversen Berufen wie Tabakbauer oder Eisenleger und fand als Buchhändler 1997 den Weg zur Schriftstellerei.

Seit 1998 ist er als Dramatiker gefragt und feierte mit „Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ (2003) auch international Erfolge. 2011 gab es am NTM die deutsche Erstaufführung des Bärfuss-Dramas „Malaga“.

Zuletzt erschien der hochgelobte Essay-Band „Krieg und Liebe“ (Wallstein, 294 Seiten, 22 Euro).

Weitere Aufführungen von „Der Elefantengeist: 3., 5., 20.10. und 1.11. (jeweils 19.30 Uhr), am 13.10. um 20 Uhr. Karten unter: 0621/16 80 150. jpk

Ressortleitung Stv. Kulturchef

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