Mehrere Anläufe hat es gebraucht, sagt Operndirektor Thomas Böckstiegel in der Pause, bis diese Produktion endlich seine Premiere erleben durfte. Eine Covid-Verschiebung nach der anderen. Doch nachdem im April vergangenen Jahres die digitale Premiere von Axel Vornams Sicht auf Alban Bergs „Lulu“ bereits auf der Mattscheibe zu sehen war, konnte man nun gewissermaßen den Abgleich machen, ergo: erleben, dass Abgleich hier auch aufs Feststellen eines Abklatsches hinausläuft. Denn als etwas Anderes ist das digitale Surrogat nicht zu sehen, wenn man das Original gesehen hat.
Als bestes Beispiel mögen vielleicht jene Szenen herhalten, die am Bildschirm in sich selbst zusammen fallen, weil sie quasi automatisch mit dem Film in Konkurrenz treten. Alwas Abschiedsmonolog etwa: Als der sich mehr und mehr verliebende Schriftsteller den Körper der Mörderin als Musikstück mit grazioso, cantabile und misterioso beschreibt, spreizt Lulu auf ihrem omnipräsenten roten Diwan die Beine. Ihr Kopf hängt dem Publikum entgegen herunter, die Gliedmaßen hat sie von sich gestreckt, das Becken leicht angehoben. So liegt sie da. Empfängnisbereit und wie sich viele Männer angeblich Frauen erträumen. Die maximale Verführungsposition also. Unter anderem so hat sie Alwa um den Verstand gebracht, wie er selbst singt.
Diwan Symbol der sexuellen Macht
Am Computer passiert da emotional fast nichts, was der Tatsache geschuldet scheint, dass derartige Bilder vom Film schon tausendmal besser und konsequenter umgesetzt wurden. Die Live-Version macht da aus der Ahnung eines Gefühls das Gefühl selbst, sogar die Musik und der Gesang bewirken in ihrer Unmittelbarkeit Großes. Man hört die Anstrengungen der Partien, die ihren Sängern nicht nur höhensichere Notenkenntnis, sondern auch extreme Intervalle und Höhen abverlangen.
Vieles vom Streamingerlebnis bestätigt sich aber auch: Axel Vornam und sein Team verfrachten „Lulu“ in einen Einheitsraum mit Klapptüren. Fast wähnt man sich in Herzog Blaubarts Burg mit nur fünf Türen. Ein Rein und Raus löst die Frage von Auf- und Abtritten. Gut. Im Zentrum seiner Sicht steht Lulu und der glatte rote Diwan als Metapher für Lulus sexuelle Macht. In immer wieder neuer Version erscheint sie, anfangs als Pierrot, dann als unwiderstehlicher Würgeengel, als perlenbehängte Diva mit Revolver oder als Kopie der Gräfin Geschwitz - immer als teuflische Femme fatal, die auch die lesbische Gräfin in ihren Bann zieht.
Ein Hauch Brecht ist dabei. Ein bisschen Glanz und Glamour. Das ist alles gut gemacht und stringent. Handwerklich ist weder an der Personenführung noch an Bühne (Tom Musch) oder Kostümen (Cornelia Kraske) etwas auszusetzen. Über das Werk hinaus weist die Deutung aber nicht. Sie ist kaum als aktueller Blick 85 Jahre nach der Uraufführung in der heutigen Gender-Welt zu lesen.
Natürlich sind die meisten Dramen, Romane und Opern, die bis zum Zweiten Weltkrieg entstanden sind, Werke von Männern über Frauen, sprich: über Frauen, wie Männer sie panisch befürchten (Lady Macbeth), sich idealistisch erdenken (Fidelio) oder erotisch erträumen (Manon). Und auch Lulu gehört - rein sexuell - in diese letzte Kategorie, ist Frank Wedekinds und Alban Bergs Kreatur doch Männerfantasie, Projektionsfläche männlicher Triebe, Sexmaschine und Männer mordendes Monster zugleich. Eine Nymphomanin, die Männer (und Frauen) verschlingt, sie seelen- und also gefühllos um den Verstand bringt?
Interessant wäre hier die weibliche Sicht auf das männlich Erdachte (oder sind vielleicht auch nicht beratungsresistente Männer fähig, die weibliche Perspektive einzunehmen?). In jedem Fall würde der Interpretation von Bergs Werk dieser Standpunktwechsel in Zeiten gesteigerten Feminismus und kämpferischer Emanzipation guttun.
Auf der anderen Seite ist das Werk das Werk. Und Lulu will auch nie mehr sein, als was sie scheint oder den Männern ist. Auf diese Weise funktioniert letztlich auch ihre (am Ende) überlegene Machtausübung. Sie hat Macht über die Sexualität der Männer - also über ihre Leben. Leider fehlt der Version Eberhard Klokes ein tragischer Schlusspunkt. Lulu in eine Art Wahnvorstellung entgleiten zu lassen, ist deutlich schwächer als der Londoner Schuss mit Massenmörder Jack the Ripper. Es herrscht Entropie.
Bergs Musik dazu aber ist irrsinnig, vertrackt und kursiv, der alles Recht ist, um die Abgründe und Grauen des menschlichen Seins in die Zeitläufte einzugravieren. Paul Taubitz dirigiert das reduzierte Ensemble des Theaterorchesters weich und lyrisch, bisweilen fast, als wolle er Schärfen etwas weichzeichnen. Bergs expressive Schärfen sind aber dennoch formuliert. Die Singenden James Homann (überzeugender Dr. Schön), Joao Terleira (klangschöner Maler), Zlata Khershberg (sehr edel timbrierte Gräfin), Wilfried Staber (knorriger Schigolch), Corby Welch (brillanter Alwa) und Ipca Ramanovic (begeisternd in mehreren Partien) überzeugen in ihren oft hoch liegenden Partien. Und natürlich sie: Jenifer Larys Lulu ist selten indifferent, oft betörend und immer bereit, die stratosphärischen Höhen zu erklettern, wo sie dennoch kontrolliert bleibt.
„Über die ließe sich freilich eine interessante Oper schreiben“, meint Alwa über Lulu in einem Moment des Humors. Bergs Oper ist ein unvollendetes Meisterwerk, das sich in Heidelberg lange in der in der analogen Warteschleife befand und nun (wie auch als Gastspiel in Heilbronn) endlich als Ereignis zu erleben ist.
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