Interview - Ludwigshafens früherer Intendant Hansgünther Heyme erarbeitet Euripides’ „Herakles“ coronatauglich in einem neuen Theaterformat.

Hansgünther Heyme zeigt "Herakles" coronagerecht in Köln

Von 
Ralf-Carl Langhals
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In wilden Zeiten war Hansgünther Heyme Intendant in Köln, viel später dann Intendant des Theaters im Pfalzbau. Nun ist der erfahrene Regisseur, Schauspieler und Freund antiker Dramen wieder zurück an seiner einstigen Wirkungsstätte Köln - und macht aus Alt wieder mal Neu. Gemeinsam mit Paula Scherf und André Lehnert, dem Künstlerduo disdance project, entwickelt er eine theatrale Video-Installation für schwierige Kunst- und Corona-Zeiten. Wir führten ein Videogespräch.

Herr Heyme, in Zeiten geschlossener Theater scheint für Sie die Zeit wieder reif für Herkules-Taten, Sie arbeiten in der Tat am grie-chischen „Herakles“, warum?

Hansgünther Heyme: Ein unfasslich guter Stoff. Ich habe schon etliche Herakles auf die Bühne gesetzt, aber eben keinen von Euripides und nicht als Titelfigur. Der Stoff hat die Tragweite einer Odyssee, Ilias oder Orestie, mit einem zentralen Helden der Antike in der Dimension eines Agamemnon. Das eigentlich Tragische ist der Umgang mit solchen Helden-, ja, Erlösungsfiguren, die dann in Schuld und Katastrophen verfallen. „Herakles“ ist die schlimmste Geschichte, die ich erfahren habe in der antiken Literatur.

Inwiefern?

Heyme: Ein Held kommt quasi in letzter Sekunde, um seine Familie vor dem Tod zu retten. Stattdessen soll er aber im Auftrag der Hera die gesamte Familie ausrotten, die Kinder metzeln, seine Frau und auch seinen Vater töten. Ein ganz ungeheuerlich furchtbarer Plot, der aber sehr viel mehr mit dem Heute zu tun hat als viele andere Geschichten der Antike.

André Lehnert: „Herkales“ kann man ohne dramaturgische Winkelzüge auf alle möglichen Arten auf die aktuelle Corona-Situation beziehen. Hansgünther Heyme hat einen großartigen Strich gemacht (Textkürzungen vorgenommen, Anm. d. Red.) und das Stück von über drei Stunden auf 45 Minuten gebracht, ohne beim Inhalt einzugreifen. Und dennoch: Ich kann die Herren Söder und Laschet auf der Bühne sehen, ich kann die aktuelle Situation der Gesellschaft und auch der Künstler sehen… auch wie man Demokratie gefährdet und sie retten kann, das ist alles da drin.

Wie kam es zur Zusammenarbeit?

Lehnert: Wir kennen uns von der gemeinsamen Arbeit an „Philoktet“, einer Aischylos-Bearbeitung von Heiner Müller, das hat er 2015 im kleinen Theater Tiefrot auf seine sehr spezielle Art inszeniert und ich durfte den Odysseus spielen und die Videokunst machen. Eines Tages rief er an - er sei nun in Köln fest verortet, wann es nun mit welchem Projekt losgehe.

Sie arbeiten in Doppelfunktionen stark interdisziplinär…

Paula Scherf: Ja, André und ich arbeiten seit 2003 im disdance project an genreübergreifenden Arbeiten, die ich als Tänzerin und Choreographin und er als Schauspieler und Videokünstler verwirklichen. In der Freien Szene ist man finanziell immer etwas unterbesetzt und muss daher auch vieles selbst machen, was wir aber auch können und wollen.

Lehnert: Unser Anspruch ist es, Gesamtkunstwerke zu schaffen - und das ist auch Hansgünther Heymes Bestreben. Wir haben uns da irgendwie gerochen und deshalb kamen wir auf die Idee, Ernst Trollers „Maschinenstürmer“ zu produzieren, wo es im Original um die englischen Weber-Aufstände und Maschinen, in heutiger Übertragung aber um Digitalisierung geht. Wir sind weit gekommen, doch dann kam das Corona-Virus und es war klar, dass unser Projekt so nicht läuft.

Wie kam es dann zur Idee mit Video-Installation?

Scherf: Während einer Online-Stream-Arbeit mit Jugendlichen durfte wegen der Pandemieverordnung keine dritte Person im Raum sein, wir brauchten aber einen Anspielpartner. Also bastelten wir eine Art Minimalpuppe aus Besen, Kleiderbügel, mit gemaltem Kopf, die nach Projektabschluss auf der Probebühne sitzen blieb. Oft haben wir uns erschreckt, wenn wir in den Raum kamen, es fühlte sich an, als sei jemand im Raum. Da war eine Idee geboren. Wir schickten Hansgünther Heyme ein Bild von der Figur.

Lehnert: Und die Corona-Koordinaten gab es ja schon. Wir brauchten Stoff für maximal drei Schauspieler aus zwei Haushalten, für höchstens eine Dreiviertelstunde Spielzeit, und wir hatten Installationsmöglichkeiten von Monitoren auf Ständern. So sind wir an ihn herangetreten.

Mit welchem Ergebnis?

Heyme: Da kam ich auf „Herakles“, in der großartigen Übertragung von Heinrich Bothe aus dem Jahr 1824, ein vergessener, aber grandioser Übersetzer, ein euripideischer Stoff, den ich seit Jahrzehnten machen will, aber nicht dazu kam, unfasslich gutes Material.

Was ist das Besondere daran?

Scherf: Wir haben überlegt, was mit Corona geht, wir dürfen nicht mit anderen Schauspielern zusammen spielen, vor allem nicht mit Kindern, nicht vor zuviel Publikum und wir dürfen nicht nah miteinander agieren. Die Puppe hatte eine Präsenz. Wir könnten Figuren aufstellen, die aus den Monitoren miteinander sprechen, agieren sozusagen. Theater über Monitore, „Glotzen“ wie Hansgünther Heyme sie nennt.

Lehnert: Es kommen 20, 30 Zuschauer in den Spielraum, je nach Corona-Bedingungen, dann wird das abgespielt. Die Leute gehen wieder raus, dann wird gelüftet und es kommen die nächsten Zuschauer. Schauspieler könnten diese Mehrfachbelastungen natürlich nicht leisten, aber so eine vorproduzierte und aufgezeichnete Videoproduktion kann das. Das war die formale Grundidee.

Heyme: … die mittlerweile als Installation zu Kunst geronnen ist. Oben hängen die Götter, darunter die Protagonisten und darunter der Chor und dazwischen hängen die Knaben, Kinder, die nicht nur kein Theater spielen dürfen, sondern, in „Herakles“ auch ermordet werden, aber das ist ja schon die Story. Und der Chor bin ich.

Als kunstvoll bearbeiteter und mehrfach gedoppelter - aber abgespielter - Film…

Heyme: Für mich als Theatermacher und Fernsehregisseur ist das Unfassbare am Ergebnis, dass wir eine Art von Theater gefunden haben, die im Theater bleibt und dennoch in die Glotzen einzieht.

Es bleibt aber Film!

Heym: In den Bildschirmen erscheinen die Köpfe, geschminkt und maskiert. Unser Publikum entscheidet wie im echten Theater, ob es auf der Bühne nach links oder rechts auf den Schauspieler schaut, ob nach unten auf den Chor oder nach oben zu den Göttern. In Film und Fernsehen sind diese Blickwinkel per Kameraführung und Schnitt vorgegeben - freilich als Kunstwerk anderer Art. Unsere Arbeit ist wie Theater, es ist so nah wie Theater nur sein kann, denn das umhergehende Publikum kommt an die Gesichter näher heran als ihm das vom Zuschauerraum her möglich wäre. Es ist eine grandiose Findung - es ist besser als Theater!

Das aus Ihrem Munde?

Heyme: Zumindest in Zeiten von Corona ist es die Rettung des Theaters!

Wie darf man sich das technisch vorstellen? Wie gelingt die Inter-aktion zwischen den Figuren?

Scherf: Wir haben Monate am Tisch geprobt, Textarbeit, wie man sie von Hansgünther Heyme kennt, sehr ausführlich, sehr tiefgründig - und dabei versucht, einen gemeinsamen Rhythmus zu finden. Aber natürlich ist es nicht möglich, diesen Rhythmus der Einzelaufnahmen exakt miteinander zu verschränken, so dass auf die Millisekunden exakte Dialoge entstehen.

Wie haben Sie sich beholfen?

Lehnert: Ich habe den Zauberkasten des Videokünstlers ausgepackt und verschiedene unsichtbare Schnitt- und Bearbeitungstechniken benutzt, zum Beispiel unmerkliches Verlangsamen, Verschnellern, Wiederholungen, Puffer. Technisch hoch kompliziert und mit aufwendiger Nacharbeit verbunden, die sich auch grundsätzlich von der Nachbearbeitung im Film unterscheiden.

Wodurch?

Lehnert: Schon bei den Special-Effekts und Tricks gibt es Unterschiede. Das ist nicht Hollywood, sondern experimentelle Videokunst für und mit Theater, die uns viel Freiheit gibt, die man bei der Hochglanzproduktion nicht hat.

Die Monitore hängen in einer Art Skulptur?

Lehnert: Genau, wir denken, dass die Phalanx von Bildschirmen, die auf bis zu vier Meter Höhe und drei Meter Tiefe im Raum verteilt steht, einen ungeheuren Zug entwickelt.

Das Ganze ist aber reisefähig?

Scherf: Ja, die Produktion lässt sich mit relativ geringem Aufwand fast überall zeigen, wo unter bestimmten Corona-Bedingungen wieder Publikum an Kunstorte kommen darf und mag. Wir haben schon einige Gastspielvereinbarungen getroffen.

Was ist Ihr gemeinsames Anliegen?

Lehnert: Große, antike Stoffe an die Jugend zu tragen, um ihnen und allen, die Universalität der Texte und die Heutigkeit der Probleme zu zeigen.

Welche wären das?

Heyme: Es gibt ein großes Problem und die Rettung naht und der Held, läuft gegen die Wand…

Lehnert: Ist es klug, die Kultur dicht zu machen und so die Menschheit gesund zu erhalten und zu retten? Oder kommt das Ganze wieder hintenrum zurück? War Herr Laschet der Held, als er uns mit Lockerungen bedacht hat oder ist er der Held, wenn er alles schließt? Wo ist die Rettung und kann es überhaupt eine geben?

Wer könnte sie bringen?

Heyme: Der Verfall der brutalen Sicherheit, dass die Welt von den Göttern beherrscht wird, die von Aischylos über Sophokles bei Euripides in das absolute Desaster rutscht, zeigt uns für heute: Der Himmel ist leer, wir müssen handeln, es macht niemand für uns. Das ethische Postulat - es liegt in der Hand des Menschen. Welche Aufgabe ! Welche Herausforderung!

Hansgünther Heyme – Intendant und Theatermacher

  • Die Karriere des 1935 in Bad Mergentheim geborenen Hansgünther Heyme begann in Mannheim: 1956 war er Assistent bei Erwin Piscators „Räuber“-Inszenierung zur Wiedereröffnung des Nationaltheaters.
  • In Heidelberg, wo Heyme zuvor Germanistik, Philosophie und Soziologie studiert hatte, wurde er Spielleiter, dann Oberspielleiter am Staatstheater Wiesbaden, Schauspieldirektor in Köln (1968-79), Stuttgart und Essen sowie Generalintendant in Bremen.
  • 1986 drehte er einen „Tatort“. 1990 bis 2002 leitete er die Ruhrfestspiele Recklinghausen. Von 2004 bis 2014 war Heyme Intendant des Theaters im Pfalzbau Ludwigshafen. Der heute 85-Jährige ist weiter aktiv: 2015 zeigte Heyme in Mannheim Shakespeares „Sturm“ mit deutschen und bulgarischen Akteuren in der Neckarstadt.
  • 2017 inszenierte er das barocke Trauerspiel „Agrippina“ als integratives Theaterprojekt mit Schülern und syrischen Flüchtlingen in Kirchheimbolanden. Bei den Burgfestspielen Jagsthausen inszenierte er 2018 Goethes Sturm- und Drang-Drama „Götz von Berlichingen“.
  • Zusammen mit Paula Scherf und André Lehnert, dem Kollektiv disdance project, inszeniert Heyme nun die antike Tragödie „Herakles“ im Kölner WandelWerk, Premiere ist am 9. Dezember, es gibt 30 weitere Aufführungen bis zum 13. Dezember. Karten unter: 0157/32 38 82 12.

Redaktion Seit 2006 ist er Kulturredakteur beim Mannheimer Morgen, zuständig für die Bereiche Schauspiel, Tanz und Performance.

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