In seinen letzten Werken hatte Salman Rushdie immer mal wieder Romane der Weltliteratur vor zeitgenössischen Konfliktlagen neu erzählt. Wenn er jetzt seinem vierzehnten Roman Cervantes‘ „Don Quijote“ unterlegt, das Urbild realistischen Erzählens, beweist das, wohlwollend betrachtet, die Risikobereitschaft des 72-jährigen Schriftstellers: Da will einer noch mal zeigen, was er kann. Und das ist viel.
Rushdies Quichotte (er trägt die französische Namensvariante) reist als alternder Pharmavertreter durch Trumps Amerika. Ismael Smile ist ein Migrant indischer Abstammung, im Beruf so wenig erfolgreich wie im Werben um Frauen. In einsamen Nächten sucht er Trost in exzessivem Fernsehkonsum. Wie seinem Vorfahren die Ritterromane, verwirrt ihm die Scheinwelt des Fernsehens, in der alles möglich scheint, die Sinne. Und so entbrennt er in närrischer Bewunderung für eine Talkshow-Moderatorin, der Nummer zwei hinter der großen Oprah.
Ist alles möglich?
Salma R. ist indischer Herkunft, sie ist überaus attraktiv – und sie lebt weit weg von dem mediokren Handlungsreisenden im New York der Schönen und Reichen. Aber wenn in der Welt alles möglich ist – warum soll er nicht die Talkshow-Queen von seiner Vortrefflichkeit überzeugen und ihr Herz gewinnen können?
Also begibt sich dieser moderne Ritter auf eine abenteuerliche Reise nach New York, quer durch ein Land im Zustand kollektiver Hysterie, beherrscht von populistisch aufgehetzten Verschwörungstheoretikern und rassistischen Wutbürgern – kein Land für Menschen mit dunklem Teint, wie Ismael erfahren muss. Bei allen Widrigkeiten kann er nicht ahnen, dass er der Angebeteten schon bald näher kommen wird, als ihm eigentlich lieb sein kann. Denn Miss Salma giert nach dem verkaufsträchtigsten Produkt aus Ismaels Musterkoffer: sublingual zu verabreichendes Fentanyl-Spray, eigentlich ein hochpotentes Schmerzmittel für Krebskranke, aber auch begehrte Droge zahlungskräftiger Promis.
Rushdie reflektiert hier, stimmig bis in die bizarren Details, die amerikanischen Opiat-Krise. Das ist nicht der einzige satirische Kommentar zur mentalen Verfasstheit des gegenwärtigen Amerika: einer Gesellschaft, die aus den Fugen zu geraten droht durch die Simplifizierung des öffentlichen Diskurses. Die Unvernunft ist allgegenwärtig in diesem grellbunt illuminierten Sittenbild: bei weitem nicht nur in Gestalt von Quichottes närrischem Liebeswerben, vor allem in der stets mitlaufenden schrillen Tonspur der geballten Medientrivialitäten. Das liest sich, obwohl erkennbar vom Zorn des Autors befeuert, überaus amüsant. Rushdie macht sich (und seinen Lesern) einen Spaß daraus, den satirischen Impetus auf die Spitze zu treiben, bis die Dinge ins Surreale kippen. Der Wirklichkeit wird man nur noch durch die Inszenierung des Absurden gerecht.
Das setzt Rushdie mit atemberaubendem Einfallsreichtum in Szene. Er eignet sich ironisch Vorlagen der Hochliteratur an, bedient sich übermütig im unerschöpflichen Fundus der Populärkultur und bewegt sich in erzählerisch eleganten Übergängen zwischen den Genres – des Spionageromans und der Science-Fiction ebenso wie des Märchens und Familienromans. Als vielgestaltige Collage erweist sich die Erfindungskraft des Romans dem immergleichen medialen Junkfood haushoch überlegen. Erst recht, wenn Rushdie als Cervantes‘ Nachfahre um keine Kapriole verlegen ist, um die Verschränkungen von Realität und Fiktion in Szene zu setzen. So wird diese Quichotte-Geschichte rasch als literarische Erfindung kenntlich: der Versuch eines Thriller-Autors in einem neuen Genre.
Er behält das letzte Wort
Wie seine Figur ist dieser Erzähler indischer Herkunft; was er sich ausdenkt, erweist sich als Projektion der eigenen Seelenlage. Bald mischen die imaginierten Figuren sich ins Leben des Erzählers ein und bringen Familiengeheimnisse zur Sprache. Wie all diese Spiegelungen zum Ende hin sich auflösen in einem empathischen Blick auf die Figuren, das zeigt – nach einer Reihe reserviert aufgenommener Romane – den großartigen Erzähler Rushdie. Zwischen der Adaption der klassischen Vorlage und dem Spiel mit Metamorphosen und Spiegelungen führt er vor, wie in einer von medialen Fälschungen dominierten Wirklichkeit ein Autor das letzte Wort behält.
Wichtige Stimme der zeitgenössischen Literatur
- Salman Rushdie wurde 1947 in Bombay geboren, seine Ausbildung erhielt er auf englischen Internaten und in Cambridge. Mit seinen „Mitternachtskindern“ schrieb er sich 1981 in die Weltliteratur ein. Seitdem gilt er als wichtige Stimme einer postkolonialen Literatur.
- Der bekannteste seiner 14 Romane sind „Die Satanischen Verse“ (1988). Das Werk brachte Teile der islamischen Welt auf, der iranische Revolutionsführer Khomeini verhängte in einer Fatwa das Todesurteil über den Autor. Die politischen Implikationen dieser Affäre stellten lange Zeit die literarische Bedeutung der Romane in den Schatten.
- Salman Rushdie: „Quichotte“. Roman. Aus dem Englischen von Sabine Herting. C. Bertelsmann Verlag, München. 460 Seiten, 25 Euro.
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