Bleibt zu hoffen, dass die Begeisterung für AnnenMayKantereit (AMK) das Ansteckendste ist, was beim Konzert der Kölner Band in der ausverkauften Mannheimer SAP Arena grassiert. Auf jeden Fall hat die epidemische Angst vor dem Coronavirus nicht für leere Plätze gesorgt. Die 10000 Besucher sind ja auch von etwas ganz Anderem infiziert: Die Symptome breiten sich rasend schnell aus, als die immer noch jungen Musiker die zunächst sehr kompakt und schmucklos gehaltene Bühne betreten. Aber spitze Jubelschreie und lautstarkes Mitsingen des Hits „Marie“ sind nicht unbedingt etwas, unter dem man leidet.
Die erste Nummer kommt zunächst eher leise und so puristisch wie auch das Bühnenbild daher. Nur Henning Mays einzigartig tief geerdete, wie von einem Seebärenleben gegerbte Stimme ist zunächst lauter als der Publikumsgesang. Sofort ist klar: AMK transportieren die Club-Atmosphäre ihrer kleineren Tourneen völlig problemlos in die großen Hallen. Die groovende Dynamik, die ihr Indie-Liedermacherpop transportieren kann, nimmt gegen Ende des Songs mächtig auf - aber das ist kein hyperperfektioniertes Profimuckertum, sondern hier geht es auch mal um leicht schaukelnde Authentizität und Spielfreude.
Größter Auftritt in der Region
„Guten Abend, Mannheim! Wir waren so lange nicht hier“, ruft May gut aufgelegt. Dabei ist der furiose Überraschungsauftritt von AMK beim Maifeld Derby gerade mal acht Monate her und eine Straßenbahnstation entfernt. Auf jeden Fall freut er sich über den bisher „größten Mannheim-Auftritt ever“ und dankt allen, die vor Jahresfrist in der Alten Feuerwache waren. Allein an diesen Stationen ist zu sehen, wie nachhaltig und weitsichtig sich diese straßenmusikgestählte Ex-Schülerband seit 2014 hochgespielt hat.
Auf zwei etwas voluminösere Rock-Nummern folgt „Du bist anders“, bei dem nicht nur räumliche Tiefe die Bühne vergrößert, sondern mehrstimmiger Gesang und Gasttrompeter Ferdinand Schwarz das Klanggebäude erweitern. Für „Vielleicht vielleicht“ wird sofort wieder abgespeckt - und Severin Kantereit trommelt sogar auf dem Koffer. „Wie im Urlaub“, merkt May an. Noch so ein Erfolgsgeheimnis: Vier Freunde sollt ihr sein. Das vermittelt das Quartett extrem glaubwürdig - und bedient so i m Subtext die Sehnsüchte nach einer etwas heileren Welt, aber ohne jede Schlager-Bigotterie. Die nachdenklicheren Lieder „Weiße Wand“ und „Hinter klugen Sätzen“ vermitteln die frohe Botschaft, dass auch gesunder Menschenverstand noch eine markante Stimme hat - ohne gleich alternativlose Wahrheiten mit dem Zeigefinger einhämmern zu wollen.
Außerdem können die Texte aus der Feder Mays unendlich traurig sein. „Sieben Jahre“ zum Beispiel, das von zwei verunglückten Freunden handelt. Das größte Talent des immer noch jungenhaften 28-Jährigen: Komplexe Gefühle in einfache Worte packen, die auch generationsübergreifend als Projektionsfläche dienen. „So was kriegst du aus dem Herzen nicht mehr raus“, ist so ein Satz, der dank dem Rio-Reiser-Raureif in Mays Stimme nicht mal kitschig klingt. Alles nix Konkretes, könnte man spotten und den Titel des AMK-Debütalbums zitieren. Aber: Wer kennt das nicht?
Dann blasen Kantereit an Congas und Malte Huck am Bass mit einem Mördergroove die Trübsal weg und Wolkenreiterin „Jenny Jenny“ macht die Arena zur Partyzone. Als sich zwei der Jungs dabei tanzend näher kommen, wogt ein kollektiver Entzückensschrei durch die Halle, die so etwas gerade mal bei Harry Styles oder Tokio Hotel gesehen hat. Dabei hat das eher die Folk-Energie von Mumford & Sons & Co. - im Mundharmonika-befeuerten „Wohin Du gehst“ überschlagt sich die Stimmung fast.
Das könnte jetzt so weitergehen, aber AMK sind eine mutige Band und lassen mehrere neue, völlig unbekannte Lieder folgen - aufgelockert durch den heftig gefeierten alten Uptempo-Kracher „21, 22, 23“. Der erste Neuzugang mit dem Refrain „Ich betrinke mich im Schatten“ bedient zwar das melancholische Register, geht aber so druckvoll nach vorn, dass die Fans einfach durchklatschen.
Lied für Seenotretterin Klemp
„Für Pia“ spielen sie auf der inzwischen üblich gewordenen Nebenbühne mitten im Saal. Dafür gehen Sie mitten durchs Publikum, das May nur freundlich fragen muss, um eine Gasse zu öffnen. Das Lied ist Pia Klemp, der Kapitänin eines Seenotrettungsschiffs, gewidmet, entfacht ein anrührendes Lichtermeer und bekommt frenetischen Applaus. Es folgen das hübsche, auch auf Anhieb mitgesungene „Komm zu mir“ und „Kein Tourist“, ein leichtgängiges Mitbringsel aus Gitarrist Christopher Annens Italien-Urlaub, bei dem er auch erstmals den Leadgesang übernimmt.
Zurück auf der großen Bühne betört May nicht barfuß, aber solo am Flügel mit dem neuen „Orangenlied“. Darin taucht Mays alleinerziehender Vater auf, der auch im stürmisch gefeierten „Oft gefragt“ so empathisch verewigt wurde, dass der Hit nicht nur Mays Altersgenossinnen aufseufzen lässt, sondern auch bei ihren alten Herrn Vatergefühle wecken kann - noch so ein Erfolgsgeheimnis. Den Triumph rundet der ewige Abräumer „Pocahontas“ ab - tosender Applaus nach runden 75 Minuten.
Die Zugabe folgt schnell und startet melancholisch mit dem euphorisch begrüßten „Barfuß am Klavier“, das May allein interpretiert. Auch das wirkt - egal ob in Arenen, Clubs oder am Lagerfeuer. Der Abend endet mit zwei Ausgehnummern, bei denen vor allem die ansteckende Lebensfreude von „Ich geh heut nicht mehr tanzen“ seinen Titel ad absurdum führt. Das ist insgesamt eine Mixtur, die AMK zur einzigen Band ihrer Generation macht, für die das Arena-Format nicht das Ende der Fahnenstange sein muss. Denn nicht nur in ihrer Heimatstadt Köln stehen schöne Stadien, denen ansteckende Club-Atmosphäre auch mal guttut.
Das Programm
- Erster Teil Hauptbühne: 1. Marie (2018), 2. Nur wegen dir (2018), 3. Es geht mir gut (2016), 4. Du bist anders (2018), 5. Vielleicht Vielleicht (2018), 6. Weiße Wand (2018), 7. Hinter klugen Sätzen (2018), 8. Sieben Jahre (2018), 9. Jenny Jenny (2018), 10. Wohin Du gehst (2016), 11. Im Schatten (2020), 12. 21, 22, 23 (2016).
- Nebenbühne: 13. Für Pia (2020), 14. Komm zu mir (2019), 15. Kein Tourist (2020).
- Zweiter Teil Hauptbühne: Orangenlied (2020), 17. Oft gefragt (2015), 18. Pocahontas (2016).
- Erste Zugabe: 19. Barfuß am Klavier (2018), 20. Ich geh heut nicht mehr tanzen (2018).
- Zweite Zugabe: 21. Ausgehen (2020).
- Weitere Termine
- Das Schlachthof Open Air mit AnnenMayKantereit & Freunde am 1. August in Wiesbaden ist ausverkauft.
- Für die KSK Music Open am 2. August in Ludwigsburg gibt es noch Karten via www.annenmaykantereit.com
- Außerdem spielen die Kölner am 8. August beim Taubertal Festival.
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