Literatur - Schriftsteller Julian Barnes erzählt in „Die einzige Geschichte“ unsentimental von den Verwundungen durch die Liebe

Gemischtes Doppel

Von 
Holger Schlodder
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Ein Meister seiner Kunst: Der britische Schriftsteller Julian Barnes. © dpa

Die erste Liebe bestimmt ein ganzes Leben. Diesen Satz hat der neunzehnjährige Jurastudent Paul, die Hauptfigur im neuen Roman von Julian Barnes, „Die einzige Geschichte“, schon mal gehört. Aber auf welch dramatische Weise er sich für ihn bewahrheiten soll, das kann er nicht ahnen, als er im lokalen Tennisclub seiner Londoner Vorstadt die fast dreißig Jahre ältere, zudem verheiratete Susan kennenlernt. Sie absolvieren mäßig erfolgreich ein gemischtes Doppel – und verlieben sich ineinander. Das ist keine vorübergehende Mrs.Robinson-Affäre, wie im Film „Die Reifeprüfung“, und auch keine dieser französischen Romanzen, in denen die ältere Frau den jungen Mann in die Kunst der Liebe einführt, um ihn dann mit einer diskret verborgenen Träne im Auge in die Welt der Jüngeren zu entlassen.

Ernste Angelegenheit

Diese Liebe ist von Anfang an eine ernste Angelegenheit, und sie wird über Höhepunkte und Widrigkeiten hinweg mehr als zehn Jahre dauern und den übermütigen jungen Burschen zum nachdenklichen Mann reifen lassen. Anfangs ist er in seiner Unbedarftheit mächtig stolz an der Seite der älteren Frau – und erst recht in ihrem Bett, mit dem Ehemann im selben Haus.

Man ist im London der frühen sechziger Jahre, die Nachkriegsgeneration macht sich daran, Konventionen abzuräumen. Bei seinen Studienfreunden bringt Paul die altersmäßige Mesalliance dann auch Bewunderung ein; seine spießigen Eltern quittieren die „Schande“ mit dem berüchtigten englischen Schweigen: „ein Schweigen, bei dem beide Seiten alle unausgesprochenen Worte sehr wohl verstehen.“

Bald gibt das Paar das unwürdige Doppelleben im Vorort auf und nimmt sich in London eine gemeinsame Wohnung. (An eine Scheidung wagt Susan nicht zu denken.) Paul fühlt sich endlich erwachsen, ist aber noch zu jung und zu euphorisiert, um die grundsätzliche Asymmetrie dieser Beziehung zu erkennen: Er hat darin weit weniger zu verlieren als seine Geliebte in ihrer panischen Angst vor dem Verlassenwerden zugunsten einer Jüngeren. Und so bemerkt Paul erst spät, wie seine Gefährtin die Panik und die Schuldgefühle gegenüber ihrer Familie mit dem Griff zu Flasche bekämpft.

Als die Zeichen von Depression und Alkoholismus nicht mehr zu übersehen sind, steht er seiner Geliebten zur Seite – was wohl die wenigsten Männer in seinem Alter täten. Verantwortungsvoll, aufopferungsbereit, aber auch in fataler Selbstüberschätzung durchlebt er mit ihr den Teufelskreis aus Schuldgefühlen, Sucht und Paranoia, der auf ihre vollständige seelische Zerrüttung zuläuft. Zum bitteren Ende bleibt Paul nur noch sich selbst zu retten übrig.

Julian Barnes präsentiert diese Geschichte einer zerstörerischen Leidenschaft ohne jede Sentimentalität, aber mit gefühlssezierender Unerbittlichkeit. Die Struktur des Romans ist eine durch und durch ironische: Der etwa siebzigjährige Paul erinnert die Geschichte seiner Liebe in wechselnden Erzählperspektiven: von der Euphorie des Anfangs über den Verlust der Unschuld bis zum ernüchternden Ende. Der desillusionierte Ältere weiß dabei vieles, was der junge Mann kaum ahnen konnte. Aber er geht nachsichtig mit dem ein wenig eingebildeten jungen Mann um, der er einmal gewesen ist.

Wie er sich noch einmal diese Liebe in all ihren Höhen und Tiefen vergegenwärtigt, da wird ihm auch deutlich, was die Verwundungen dieser Liebe aus ihm gemacht haben: einen Einzelgänger, der Ruhe und Routinen liebt und „das bescheidene Behagen, wenn man weniger empfindet“. Mehr als lockere Freundschaften kann er nicht mehr eingehen – er hatte seine, „die einzige Geschichte“.

Es ist eine Geschichte von euphorischer Erhebung und kläglichem Scheitern, im Bemühen um größtmögliche Aufrichtigkeit unaufgeregt präsentiert von einem herausragenden Erzähler, der keine großen Worte braucht, um uns an seiner Lebensklugheit teilhaben zu lassen. Es reicht dieses gemäßigt ironische, seiner selbst sichere Parlando, das die Übersetzerin Gertraude Krüger in ein angenehm lesbares Deutsch gebracht hat.

Beliebter und preisgekrönter Autor

  • Der englische Schriftsteller und Übersetzer Julian Barnes wurde 1946 geboren und lebt in London. Bekannt wurde der ehemalige Journalist und Kritiker zunächst durch Kriminalromane, dann durch die Romane „Flauberts Papagei“ (1984) und „Eine Geschichte der Welt in zehneinhalb Kapiteln“ (1989).Sein Werk wurde mit wichtigen Literaturpreisen ausgezeichnet.
  • Sein Roman „Vom Ende einer Geschichte“ (auf Deutsch 2011) wurde mit dem renommierten Man Booker Prize geehrt, der die beste englischsprachige Neuerscheinung eines Autors aus dem Commonwealth oder aus Irland prämiert. Zuletzt erschien von Barnes auf Deutsch der Roman „Der Lärm der Zeit“.
  • Sein neues Buch: „Die einzige Geschichte“. Roman. Aus dem Englischen von Gertraude Krueger. Kiepenheuer & Witsch. 304 S., 22 Euro.

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