Pop - Bob Dylans „Rough And Rowdy Ways“ ist ein meisterliches Alterswerk – vor allem, was Texte und Gesang angeht

Gegen falsche Propheten

Von 
Jörg-Peter Klotz
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Bob Dylans Texte trafen Mitte der 1960er Jahre den Nerv der Zeit auf den Punkt. An diese Ära knüpft der Literaturnobelpreisträger jetzt wieder an. © Don Hunstein/Sony Music

Bob Dylan kann einzigartig meisterliche Texte schreiben. Diese Aussage ist so selbstverständlich, dass man mit Leonard Cohen darüber spotten möchte: „Das ist etwa so, als würde man ein Schild vor dem Mount Everest errichten, auf dem ‚höchster Berg der Welt‘ steht.“ So kommentierte der annähernd kongeniale Kanadier 2016 die Vergabe des Literaturnobelpreises, die Dylans Verdienste um Poesie und Sinn in zuvor meist belanglosen Rocktexten würdigte.

Andererseits: Die bald 80-jährige Songwriter-Ikone hat es lange nicht getan. Seit seinem Meistwerk „Tempest“ (2012) veröffentlichte er kein eigenes Lied. Stattdessen interpretierte Dylan auf drei (!) Alben in Folge Standards US-amerikanischer Unterhaltungsmusik neu. Vieles davon hatte Charme und war inspiriert, vor allem live. Aber das Ausmaß dieser Passion für zum Großteil von Frank Sinatra verewigten Uralt-Hits strapazierte auch die seit Generationen große Geduld der Anhänger der Sphinx des Rock. Nun erscheint sein 39. Studioalbum „Rough And Rowdy Ways“ mit zehn Songs, die zum Großteil weit weniger rau und laut klingen, als es der Titel verspricht. Dafür sind die Texte teilweise Mount-Everest-tauglich – und markieren ein meisterliches, in vielerlei Hinsicht offenherziges Alterswerk.

Durststrecke seit 2012

Bekanntlich endete die siebeneinhalbjährige Durststrecke schon Ende März. Da veröffentlichte Dylan ohne Vorankündigung den längsten Song seiner langen Karriere: „Murder Most Foul“. In fast 17 Minuten nimmt er darin „den verabscheuungswürdigsten Mord“, das Attentat auf US-Präsident John F. Kennedy 1963 zum Ausgangspunkt für einen epischen musikalischen Essay zur gesellschaftlichen und kulturellen Geschichte der USA eines halben Jahrhunderts.

Die Resonanz war enorm, es geschah, was Dylan sich offensichtlich erhofft hatte: Viele nutzten die Entschleunigung der Corona-Krise, um sich mit dem Versepos und seinen zahllosen Referenzen zu beschäftigen. Neue dylanologische Doktorarbeiten werden unvermeidlich sein, auch wenn der Text nicht die poetische Qualität von Klassikern wie „Desolation Row“ erreicht (dem tatsächlich schon eine Monografie gewidmet wurde). Es folgten zwei weitere Vorabauskopplungen, deren Titel allein schon den Zeitgeist punktgenau berühren, wo es weh, aber auch gut tut. So wie es Dylan zuletzt in Serie in den 1960er Jahren gelungen ist.

Es mutet gespenstisch an, wie prophetisch die Titelzeile „Murder Most Foul“ den Mord an George Floyd in Minneapolis um Monate vorwegnimmt – der eine neue Bürgerrechtsbewegung auf die Straßen der Welt treibt. Das bleibt weit entfernt von den „Topical Songs“, mit denen Dylan früher im Stil eines Moritaten-Nachrichtenerzählers über schreiende Ungerechtigkeiten gegen Afroamerikaner wie den einsamen Tod von Hattie Carroll 1963 gesungen hat. Es scheint aber klassische Avantgarde-Theorien zu bestätigen, denen zufolge relevante Künstler Entwicklungen vorab erspüren und kreativ verarbeiten.

„I Contain Multitudes“ (zu Deutsch: Ich enthalte Vielfalten) handelt zwar im Wesentlichen von Dylans extrem vielfältigen kulturellen Einflüssen, könnte unter dem Regime der Pandemie aber auch als Anspielung auf einen gleichnamigen Wissenschafts-Bestseller über Mikroben im Menschen verstanden werden. Im tatsächlich erfreulich rauen, wölfisch gefauchten Blues „False Prophet“ wehrt sich Dylan wieder mal gegen seine Vereinnahmung als „Messias von irgendwas“. Gleichzeitung wirkt der Text momentan wie eine gravitätische Maßregelung falscher Propheten, die von Verschwörungen raunen oder Staaten an den Rand des Untergangs manövrieren: „Well I’m the enemy of treason / Enemy of strife / I’m the enemy of the unlived meaningless life / I ain’t no false prophet / I just know what I know (Nun, ich bin der Feind des Verrats / Feind des Streits / Ich bin der Feind des ungelebten, bedeutungslosen Lebens /Ich bin kein falscher Prophet / Ich weiß nur was ich weiß).

Das hat Kraft. Auch wenn die Texte nicht so kunstvoll sind wie Mitte der 1960er. Ganz bewusst: „Die Texte sind echt, greifbar, sie sind keine Metaphern. Die Songs scheinen sich selbst zu kennen und sie wissen, dass ich sie stimmlich und rhythmisch singen kann“, beschreibt Dylan seine Art zu arbeiten im Interview mit der „New York Times“. Aber insgesamt verlieren die raffinierten popkulturellen Anspielungen in der inflationären Vielzahl etwas an Reiz. Zumal sie offenbar reinen Bewusstseinsstrom darstellen und gar keinen übergeordneten Sinn ergeben wollen.

Musikalisch ist der Grundton der meisten Lieder ruhig und kontemplativ – wohltuend in diesen Zeiten, die nun wirklich „rough und rowdy“ genug sind. Die Band um Gitarrist Charlie Sexton glänzt trotzdem immer heller, je mehr man sich einhört. Allein der vielsagende Kontrast zwischen dem Mantra von Jazz-Piano und Country-Violine der Schlussnummer „Murder Most Foul“ bringt Welten zusammen. Das chorisch grundierte, zunächst fast monotone Liebeslied „I’ve Made Up My Mind To Give Myself To You“ bezaubert mit der Zeit genau so wie die schneller greifbaren Balladen „Mother Of Muses“ und „Key West (Philosopher Pirate)“. Das klingt dezent seemännisch und entfernt sogar nach dem „Oh Mercy“-Sound, den U2-Produzent Daniel Lanois Dylan 1989 verordnete.

Überraschend ist der dylanesque Beinahe-Bond-Song „My Own Version Of You“ mit seiner Trip-Hop-Anmutung jenseits des Beats. Wem das alles zu ruhig ist, den muntern virile Blues-Variationen wie die Hommage „Goodbye Jimmy Reed“ und „Crossing The Rubicon“ sicher auf. Denn der – gesanglich stets umstrittene – Sänger Dylan erweist sich durchgängig als Meister spannungsvoller Phrasierung im Dienst seiner Texte. Das ist die größte Kunst, die es hier zu hören gibt, auch dafür kann die lange Sinatra-Phase gut gewesen sein.

39. Studioalbum seit 1962

  • Bob Dylan wurde am 24. Mai 1941 als Robert Zimmerman in Duluth/Minnesota geboren. Songs wie „Blowin’ in The Wind“ (1963) machten ihn zur Ikone der US-Folk-, Bürgerrechts- und Friedensbewegung
  • 1965 vollzog die Songwriter-Ikone den Wechsel zur Rockmusik („Like A Rolling Stone“) und begann surreale, symbolistische Texte zu schreiben. „Blonde On Blonde“ (1966) gilt als Meisterwerk jener Ära. Die 1980er und frühen 1990er Jahre waren eine Zeit künstlerischer Krisen, die er erst mit „Time Out Of Mind“ (1997) überwand
  • 2016 erhielt Dylan den Literaturnobelpreis, obwohl er mit dem vom Mannheimer Carl Weissner übersetzten Beat-Literaturroman „Tarantel“ (1971) und der Autobiografie „Chronicles, Volume One“ nur zwei Bücher selbst verfasst hat
  • Sein 39. Studioalbum „Rough And Rowdy Ways erscheint am 19. Juni digital und als Doppel-CD bei Sony – mit neun Songs auf dem ersten Silberling und dem vorab ausgekoppelten, fast 17-minütigen Song-Epos „Murder Most Foul“ auf dem zweiten. Die Vinyl-Ausgabe folgt am 17. Juli als Doppel-LP in 180-Gramm-Pressung.

Ressortleitung Stv. Kulturchef

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