Das Wichtigste in Kürze
- Hans-Georg Gadamer (1900–2002) zählt zu den wichtigen Philosophen des 20. Jahrhunderts.
- 1960 veröffentlichte er sein Hauptwerk „Wahrheit und Methode“, das eine Grundlegung der Geisteswissenschaften bietet.
- Seit 1949 lehrte Gadamer an der Universität Heidelberg. Bis zu seinem Tod lebte er mit seiner Frau in einem Haus im Stadtteil Ziegelhausen.
Heidelberg. Als der Philosoph Hans-Georg Gadamer 1960 sein seit langem geplantes Hauptwerk „Wahrheit und Methode“ veröffentlichte, fragte er sich, ob er damit nicht zu spät herauskomme. Die Befürchtung blieb ohne Folgen, denn das Werk entfaltete eine breite Wirkung; es wurde zum Lehrbuch und machte den am 11. Februar 1900, also vor 125 Jahren, geborenen Philosophen weltberühmt. Das aber hatte Folgen auch für die Stadt und Universität Heidelberg, wo Gadamer seit 1949 lebte und als Nachfolger des nach Basel übergesiedelten hochrenommierten Karl Jaspers lehrte. Denn jetzt hatte Heidelberg mit Gadamer wieder einen weithin bekannten Denker in seinen Reihen. Und das Philosophische Seminar der Universität, wo schon Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) zeitweise gelehrt hatte, konnte wieder an seine große Tradition anschließen.
Anfang des 20. Jahrhunderts war das Institut ebenfalls von großem Einfluss gewesen: Mit Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert lehrten hier die Hauptvertreter der Heidelberger oder Südwestdeutschen Schule des Neukantianismus. Und Gadamer, der als Student in Marburg selbst durch den Neukantianismus geprägt worden war, wirkte in Heidelberg erneut schulbildend: Er prägte und förderte eine ganze Generation einflussreicher Philosophen, darunter Dieter Henrich, Wolfgang Wieland, Rüdiger Bubner oder Manfred Frank.
Auch in der Heidelberger Stadtgesellschaft war Gadamer ein gern gesehener Gast; noch hochbetagt nahm er am kulturellen Leben teil. Er nahm Stellung zu verschiedenen Fragen, schrieb weitere, auch allgemeinere Themen behandelnde Bücher, gab überregionalen und internationalen Medien Interviews und starb schließlich im gesegneten Alter von 102 Jahren.
Die Vergangenheit stellt bleibende Fragen an die Gegenwart
Die Frage, ob er nicht zu spät mit seinem Werk komme, stellte sich für Gadamer nicht so sehr bezüglich seiner Karriere, da er in Fachkreisen längst renommiert war. Sie stellte sich eher aus zeitgeschichtlichen und inhaltlichen Gründen, denn kurz vor dem gesellschaftlichen Aufbruch der 68er-Generation und dessen Vorboten betonte Gadamer in seinem Buch die Rolle der Tradition und der kulturellen Überlieferung. Die von ihm mit „Wahrheit und Methode“ begründete philosophische Hermeneutik versteht sich als eine Theorie der Geisteswissenschaften; sie dreht sich um das Verstehen, für Gadamer ein Gegenbegriff zum Erklären der Naturwissenschaften.
Die kulturelle Tradition stellt bleibende Fragen an die Gegenwart, und von heute aus stellen sich immer wieder neue Fragen an die kulturellen Zeugnisse der Vergangenheit, so Gadamer. Stets erneut wird dabei der „Sinn“, eine Bedeutung der Werke, besonders der künstlerischen, erschlossen, mit je nach Zeitlage wechselnden Akzenten. Der Aufbruch der 68er steht dagegen für eine klar gesellschaftskritische Ausrichtung auf die Gegenwart, ihr Blick zurück konzentrierte sich auf die Zeit des Nationalsozialismus und auf dessen Vorgeschichte.
Gedenken an den Philosophen Gadamer
- Der Philosoph Hans-Georg Gadamer (1900–2002) wurde nicht zuletzt durch den einflussreichen Martin Heidegger (1889–1976) geprägt, der einer seiner akademischen Lehrer war.
- Heideggers „Daseinsanalyse “ bezog Gadamer in seiner „philosophischen Hermeneutik“ auf das Verstehen in den Geisteswissenschaften.
- Gadamer lehrte ab 1949 in Heidelberg und wohnte bis zu seinem Tod im Stadtteil Ziegelhausen.
- Aus Anlass des 125. Geburtstages Gadamers erinnert im Foyer des Heidelberger Universitätsarchivs (Akademiestraße 4) eine Ausstellung an den Philosophen. Eine wissenschaftliche Tagung widmet sich dem Einfluss Gadamers auf die Geisteswissenschaften.
- Der Gadamer-Preis 2025 wird am 11. Februar, 18.15 Uhr, in der Alten Aula der Universität an die französische Philosophin und Altphilologin Barbara Cassin verliehen. tog
Mit dem gesellschaftlichen Aufbruch und den dann auch in den Geisteswissenschaften vielfach aufgeworfenen sozialen Fragen hatte Gadamers Denken nicht viel am Hut. Manchen galt er als Vertreter eines Konservativismus, der sich zudem nicht viel um Detailfragen wissenschaftlicher Interpretationen kümmere, sondern lieber das große Ganze betone, auf Kosten des Sinns im Kleineren und der Zwischentöne. Dass er von gestern und altmodisch sei, damit kokettierte Gadamer im Alter selbst - oder sagte beispielsweise auf einem Podium oder im Gespräch, dass manche jüngere Denker an ihn anschließen wollten, deren Anliegen er gar nicht nachvollziehen könne. Über sein Verhältnis zur gegenwärtigen Philosophie, namentlich zum einflussreichen Jürgen Habermas, sagte er vielsagend knapp: „Ich sage, Habermas überschätzt die Sozialwissenschaften, und er sagt, Gadamer überschätzt die Tradition.“
Gadamer-Preis wird an Philosophin Cassin verliehen
Wie wirkt die Frage heute, ob sein Werk und Denken zu spät kamen? Ist seine Philosophie womöglich nicht mehr aktuell? Aus Anlass seines 125. Geburtstags veranstaltet die Heidelberger Universität ein wissenschaftliches Kolloquium, das mit der Relevanz des Begriffs des Verstehens in den Geisteswissenschaften Gadamers Wirkung und Aktualität thematisiert. Im Foyer des Universitätsarchivs erinnert eine Ausstellung an den Denker. Zudem verleiht die Gadamer-Gesellschaft am Dienstag, 11. Februar, ihren nach dem Philosophen benannten Preis an die französische Philosophin und Altphilologin Barbara Cassin. Der wissenschaftlichen Gesprächsrunde und ihren Ergebnissen muss man jedoch nicht vorgreifen, um Gadamers Denken eine bleibende Wirkung weit über akademische Zirkel hinaus zu bescheinigen. Denn er knüpfte nicht nur an frühere Theoretiker einer Textauslegung wie Schleiermacher an, eben an die „Tradition“, Gadamer verlieh seinen Fragen auch einen universellen Charakter.
Als Schüler von Martin Heidegger übernimmt Gadamer einen Grundgedanken des wirkmächtigen Denkers, wonach das Verstehen deshalb grundlegend sei, weil es im Menschsein immer auf eine Analyse des Daseins, auf das Verstehen und Auslegen der eigenen Existenz ankomme. Wer an die Überlieferung Fragen stellt, so Gadamer, der versteht sich auch selbst als ein historisches Wesen, als ein Mensch, der in einem größeren Zusammenhang steht und Teil einer „Wirkungsgeschichte“ ist.
Auch das Gegenüber könnte recht haben
Das von Gadamer durchdachte Verstehen ist auch das des menschlichen Gegenübers. Gadamer beschreibt die Methode der Geisteswissenschaften als ein Gespräch - und betont die Bedeutung desselben auch in einem allgemeinen, nicht nur bestimmte Wissenschaften betreffenden Sinn. Ein Gespräch ist nur dann offen und angemessen, wenn man zugesteht, dass auch das Gegenüber recht haben könnte. So hat es Gadamer selbst formuliert. Es kommt also darauf an, dass wir als Gruppe und ganze Gesellschaft miteinander im Gespräch und offen füreinander bleiben.
Bei vielen Diskussionen heute, besonders in sozialen Medien, ist das erkennbar nicht der Fall. Aus Gadamers Denken lässt sich ersehen, wie es besser geht. Und es lassen sich aus diesem Werk auch Gründe ablesen, warum dieser bessere Weg absolut notwendig ist.
„Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache“ - so lautet ein viel zitierter Satz des Philosophen. Wir verstehen uns selbst und einander mittels sprachlicher Äußerungen, egal, ob wir uns nun über Zeugnisse der Vergangenheit austauschen oder in allgemeineren Zusammenhängen miteinander reden. Um uns dabei wirklich gerecht zu werden, braucht es einen behutsamen, sensiblen Wort- und Sprachgebrauch. Miteinander reden, ohne einander zu verletzen: Auch dieses Motto lässt sich aus Gadamers Denken herleiten.
Hier geht es zum Tagesprogramm von „Hermeneutik heute. Disziplinäre und transdisziplinäre Perspektiven“.
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