Von Stefan M. Dettlinger und Anika Greve-Dierfeld
Als Mei-Ann Chen mitten in der heißen Pandemiephase am 3. Mai 2021 im Rosengarten vors Orchester des Nationaltheater Mannheim trat, war sie die erste Frau seit 25 Jahren, die ein Akademiekonzert leitete. Vor ihr, der Amerikanerin, war es eine andere Frau aus den USA, die dort stand: JoAnn Faletta. Es war eine andere Epoche. Die Saison 1995/96. Im Interview mit dieser Redaktion hatte Mei-Ann Chen gesagt, sie fühle sich sehr geehrt, und: „Es macht mich auch glücklich, dass danach vielleicht keine 25 Jahre mehr vergehen, bis eine andere Frau das wundervolle Mannheimer Orchester dirigieren wird. Die Welt ändert sich schnell, und es gibt jetzt sehr viele Dirigentinnen.“
Tatsächlich wird es am 17. April keine zwei Jahre gedauert haben bis zu Mei-Ann Chens Nachfolgerin: Anja Bihlmaier wird dann im Akademiekonzert Ravel, Debussy und Chopins 1. Klavierkonzert dirigieren - mit Starpianist Rafal Blechacz als Solist.
Aber zurück zu Mei-Ann Chen. Sie habe von der Chance gewusst, ihren Traum vom Dirigierberuf realisieren zu können: „Ich denke, mit der richtigen Möglichkeit, dem richtigen Training, sehr harter Arbeit, ausdauernder Leidenschaft für die Kunst und vielleicht ein bisschen Glück und natürlich Talent kann jeder so weit kommen wie ich.“
Stellen in 129 Berufsorchestern
Zum Beispiel Ella Rosenberg. Szenenwechsel: Wir sind an der Musikhochschule Stuttgart. Kurz bespricht Rosenberg noch was mit der Pianistin, kritzelt ein, zwei Notizen in die Partitur. Dann geht es aufs Podest, dem Orchester zugewandt und ganz bei der Sache. Rosenberg ist angehende Dirigentin. Sie hebt den Taktstock, runzelt ein wenig aufgeregt die Stirn. Konzentration. Die Studentin der Dirigierklasse der Stuttgarter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst (HMDK) probt mit der Badischen Philharmonie Pforzheim Beethovens Klavierkonzert Nr. 3.
Rosenberg ist 23, ihre drei Kollegen in der von Professor Rasmus Baumann geleiteten Dirigierklasse sind auch nicht viel älter. Sie sind junge angehende Dirigenten, die sich nach Abschluss ihres Studiums in der Musikwelt als Kapellmeister beziehungsweise Dirigent behaupten müssen. „Man wird sich durchbeißen müssen“, sagt Rosenberg. Rund 80 Bewerbungen hat Robin Davis, Generalmusikdirektor der Badischen Philharmonie Pforzheim, auf die letzte ausgeschriebene Stelle bekommen.
Mehrere Hundert ausgebildete Dirigenten tummeln sich nach Einschätzung des Geschäftsführers vom Orchesterverband Unisono, Gerald Mertens, auf dem deutschen Markt. Sie können sich bewerben - national auf Stellen bei den 129 Berufsorchestern in Deutschland. Während die über 80 Opern- oder Theaterorchester immer mehrere Dirigentenstellen zu vergeben haben - vom Korrepetitor über den ersten oder zweiten Kapellmeister bis hin zum Generalmusikdirektor - steht Konzertorchestern wie den Berliner Philharmonikern ein einzelner Chefdirigent vor.
Das Personalkarussell der Dirigenten habe sich in den Coronajahren eher langsam gedreht, meint Mertens. Vielfach gehe es den Orchestern nach langen Aufführungs-Zwangspausen jetzt erstmal um Konsolidierung und nicht so sehr darum, das Pferd zu wechseln. Dennoch vollzieht sich ein Generationswechsel.
Einige Chefposten sind gerade frei oder werden gerade neu besetzt: Daniel Barenboim verlässt krankheitsbedingt seinen Posten als Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper. Bei den Münchner Philharmonikern musste der russische Dirigent Valery Gergiev den Chefposten räumen wegen seiner russlandfreundlichen Position im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg. Der Italiener Daniele Gatti wird 2024 Nachfolger von Chefdirigent Christian Thielemann bei der Staatskapelle Dresden.
Kleine Auswahl berühmter Dirigentinnen
Marin Alsop (* 1956 USA), Chefdirigentin des Baltimore Symphony Orchestra, RSO Wien und São Paulo Symphony Orchestra
Frieda Belinfante (1904-1995 NL), erste Frau in Europa mit einem eigenen Orchester
Anja Bihlmaier (* 1978 D), Chefdirigentin Residentie Orkest Den Haag
Iona Brown (1941-2004, GB), Chefdirigentin von Academy of St. Martin in the Fields, Norwegisches Kammerorchester, Los Angeles Chamber Orchestra
Mirga Grainyte-Tyla (* 1986 Litauen), Chefdirigentin City of Birmingham Symphony Orchestra (in der Zeit Cornelius Meisters Kapellmeisterin am Theater Heidelberg)
Karen Kamensek (* 1970 USA), freie Dirigentin
Oksana Lyniv (*1978 Ukraine), Generalmusikdirektorin des Teatro Comunale di Bologna/Italien
Joana Mallwitz (* 1986 D), GMD Staatstheater Nürnberg
Simone Young (* 1961 AUS), Chefin des Sydney Symphony Orchestra
Für Furore sorgte 2021 die Nachricht, dass die erst 36 Jahre alte Dirigentin Joana Mallwitz ab dem Sommer das Konzerthausorchester Berlin leiten wird - einen größeren Wandel kann man sich eigentlich nicht vorstellen vom wirklich sehr renommierten, über 80-jährigen Chefdirigenten Christoph Eschenbach zu einer sehr jungen, agilen, vermittlungsfreudigen Dirigentin, so Mertens.
Mallwitz war als Dirigentin der Staatsphilharmonie Nürnberg und ist auch auf ihrem künftigen Posten eine von nur vier Frauen, die ein Berufsorchester leiten. Das sind zu wenig, sagt Mertens und fragt sich, was da mit der Förderung junger Dirigentinnen falsch läuft. Auf 20 bis 25 Prozent schätzt er den Anteil bereits ausgebildeter Dirigentinnen. Bei den Studierenden des Faches an den Hochschulen seien nach jüngsten Erhebungen des Musikinformationszentrums (MIZ) sogar 36,7 Prozent weiblich.
Etwa ein Drittel Bewerberinnen
In der Stellenvergabe schlägt sich das bisher nicht ausreichend nieder, findet Mertens. Dabei ist „die Zukunft der Musik weiblich“, sagt dazu Baumann, der neben seiner Professur an der Stuttgarter Musikhochschule auch Generalmusikdirektor der Neuen Philharmonie Westfalen ist. Vorbehalte bei den Orchestern gegen Frauen am Dirigentenpult gebe es da keine mehr. Unter den Bewerbern auf einen Dirigierplatz sind nach Einschätzung Baumanns inzwischen ein Drittel Frauen.
Ob Frauen einen anderen Ton in die Dirigentenwelt mitbringen? Der herrscht ohnehin schon längst, sagen Mertens und Baumann. „Das diktatorische Dirigentenprinzip hat sich in meinen Augen erledigt“, betont Baumann. Es sei nicht mehr zeitgemäß, das Orchester anzuschreien. „Es geht nicht um den Dirigenten als harten Führungsknochen sondern eher als Ermöglicher“, ergänzt Mertens.
Die Musikwelt schaut gerade für die Nachfolge Barenboims Richtung Berliner Staatsoper. In München sprach sich jüngst Rathauschef Dieter Reiter (SPD) für eine weibliche Führung der Münchner Philharmoniker aus. Und vielleicht wird ja auch mal eine Frau Chefdirigentin der seit 2019 von Kirill Petrenko geleiteten Berliner Philharmoniker. Im Film jedenfalls hat das schon mal geklappt: Gerade gewann Cate Blanchett in „Tár“ einen Golden Globe für ihre Rolle als Stardirigentin des renommierten Ensembles. Auch in Mannheim wäre es an der Zeit. Tatsache ist aber, dass mit Roberto Rizzi-Brignoli im Sommer der 41. Mann in der Geschichte des Orchesters den Chefposten übernehmen wird. (mit dpa)
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