Interview - Frankreichs Botschafterin Anne-Marie Descôtes und BVMI-Chef Florian Drücke sprechen im Interview

Französische Botschafterin Anne-Marie Descôtes: "Deutschland ist ein großartiges Musikland"

Von 
Jörg-Peter Klotz
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Frankreichs Botschafterin Anne-Marie Descôtes verleiht am Sonntag im Montpellier-Haus BVMI-Chef Florian Drücke aus Heidelberg den Kulturritterschlag Ordre des Arts et des Lettres. © Christoph Soeder

Heidelberg. Frankreichs Botschafterin Anne-Marie Descôtes und BVMI-Chef Florian Drücke sprechen im Interview über die Bedeutung von Kultur und Kreativwirtschaft. Der Heidelberger erhält den Ordre des Arts et des Lettres.

Madame Descôtes, warum wird mit Florian Drücke, der Vorstandsvorsitzende des Bundesverbands Musikindustrie, am Sonntag im Heidelberger Montpellier-Haus mit dem Ordre des Arts et des Lettres ausgezeichnet?

Anne-Marie Descôtes: Florian Drücke ist eine führende Persönlichkeit in den deutsch-französischen Kulturbeziehungen und hat eine Brückenfunktion zwischen der französischen und deutschen Kultur- und Kreativwirtschaft. Insbesondere würdigen wir seine Rolle als Ko-Vorsitzender des Deutsch-Französischen Kulturrates, einer Institution, in der er sich mit Leidenschaft in den Dienst der deutsch-französischen Freundschaft gestellt hat.

Deutsch-französische Biografien

  • Florian Drücke, Jahrgang 1975, studierte in Berlin und Toulon Jura. 2004 wurde er an der Universität Greifswald promoviert. 2006 begann Drücke als Justiziar beim Bundesverband Musikindustrie (BVMI). Im November 2017 beerbte er Dieter Gorny als Vorstandsvorsitzenden.
  • Anne-Marie Descôtes wurde am 5. Dezember 1959 in Lyon geboren und nahm bereits mit zwölf an ihrem ersten deutsch-französischen Schüleraustausch teil. Es folgten weitere sowie das Studium der Germanistik und Kunstgeschichte in Berlin und Hamburg. 1994 schloss sie die französischen Elitehochschulen ENS und ENA ab. Seit 2017 ist sie Frankreichs Botschafterin in Berlin.
  • Ordre des Arts et des Lettres:  Der Orden der Künste und der Literatur  ist eine französische Auszeichnung, die am 2. Mai 1957 gestiftet wurde und vom Kulturministerium in Paris verwaltet wird. Der Orden wird vegeben an „Personen, die sich durch ihr Schaffen im künstlerischen oder literarischen Bereich oder durch ihren Beitrag zur Ausstrahlung der Künste und der Literatur in Frankreich und in der Welt ausgezeichnet haben“.

Die Frage stellt sich auch, weil in Frankreich einheimische Musik etwa per Radioquote schon lange ganz anders vor „Musikimporten geschützt“ wird als in anderen Ländern. Beneiden Sie die französische Musikindustrie deshalb, Herr Drücke?

Florian Drücke: Die Radioquote müsste man meines Erachtens differenzierter diskutieren. Ich hoffe, dass die Radiostationen sich trotzdem auch ohne Quotendruck stärker um lokales Repertoire kümmern. Generell kann man feststellen, dass es in Frankreich eine größere Offenheit gibt, sich mit ganz verschiedenen Wegen zu beschäftigen, der Branche zu helfen, und das finde ich großartig. Das geht aber weit über die Quotendiskussion hinaus und schließt beispielsweise auch steuerliche Anreize für Investitionen mit ein. Im Übrigen ist für mich Neid keine Kategorie im deutsch-französischen Verhältnis.

Descôtes: Als wir mit der Einführung von Radioquoten begannen, war der Großteil der verkauften und gesendeten Musikinhalte auf Englisch. Die Quoten haben dazu beigetragen, dass sich in Frankreich ein fantastisches originäres Musikschaffen entwickelt hat, das unsere Erwartungen übertroffen hat. Heute ist die überwiegende Mehrheit der am meisten verkauften und gestreamten Titel in französischer Sprache, weit über das hinaus, was in den Quoten vorgesehen ist. Dies ist in der Tat nur ein Beispiel für unsere Bemühungen, eine Politik der kulturellen Unterstützung der Kreativität zu verfolgen.

Herr Drücke, Sie sind ab Sonntag sozusagen Ritter der Künste und der Literatur. Was erwächst daraus für eine Verpflichtung – formell und persönlich?

Drücke: Für mich ist das vor allem eine sehr große Ehre, da hierdurch eine Anerkennung „dokumentiert“ wird. Falls es förmliche Pflichten gibt, wird mich die Botschafterin sicherlich noch rechtzeitig aufklären. Persönlich bestätigt es mich, diesen konkreten deutsch-französischen Weg weiterzugehen. Anders als früher stehen Ritter heute im Dienste einer Sache und nicht im Dienste einer Fürstin oder eines Fürsten.

Frau Botschafterin, diese Auszeichnung wird bis zu 450 Mal pro Jahr vergeben. Ich finde vergleichsweise wenig deutsche Preisträger, darunter aus unserer Region den früheren Museumschef Alfried Wieczorek. Tun wir im Kulturbereich zu wenig?

Descôtes: Ganz im Gegenteil, überall in Baden-Württemberg herrscht auf sämtlichen Ebenen eine beständige Bereitschaft, sich im Dienste der deutsch-französischen kulturellen Beziehungen einzubringen. Ich freue mich, dass Sie Alfried Wieczorek erwähnen, der vor allem für das Institut français in Mannheim eine wunderbare Arbeit geleistet hat und den ich vor kurzem mit Freude auszeichnen durfte. Natürlich prüft das französische Kulturministerium, das diese Auszeichnung verleiht, jeden einzelnen Fall sehr sorgfältig, und die Zahl der Ausgezeichneten ist daher begrenzt. Aber was Deutschland betrifft, so kann ich Ihnen sagen, dass ich regelmäßig das Vergnügen habe, Persönlichkeiten auszuzeichnen, die an unseren kulturellen Beziehungen beteiligt sind. Was Heidelberg betrifft, und da er von Florian Drücke zu seiner Preisverleihung eingeladen wurde, möchte ich Manfred Metzner erwähnen, den Leiter des Verlags Das Wunderhorn, mit besonders mutigen verlegerischen Entscheidungen und sehr starken Verbindungen zu Frankreich und zur französischen Literatur.

Kulturpolitik ist in Frankreich auch schon viel länger und vor allem prägnanter sichtbar als in der Bundesrepublik. Woran liegt das?

Drücke: Ich denke, in Frankreich ist das Bewusstsein für die kulturelle Dimension von Gesellschaft und eben auch die wirtschaftlicher Prosperität seit jeher präsenter, weil das Fundament ein breiterer Kulturbegriff ist. Ich überzeichne das mal: Wenn man Kultur ganzheitlicher, sozusagen vom Wein bis zur Mode und dem Film bis zum Comic denkt, dann fällt einem vieles leichter. In Deutschland nehme ich die Diskussion leider immer noch so wahr, als müsste erst der Kanon der Hochkultur geliefert werden, damit dann das Populäre, also das, was außerhalb der Museen und Opernhäuser geschieht, in Erscheinung treten darf. Ganz zu schweigen von den deutschen Berührungsängsten mit der Kreativwirtschaft und der ganz anderen Herangehensweise an die Debatte über das Urheberrecht.

Descôtes: Ich stimme dem zu, was Florian Drücke sagt: Wir müssen Kultur in einem weiten Sinne verstehen, um das zu fördern, was manchmal einer nationalen, aber auch einer europäischen Identität entspricht. Wir werden dies bei unserem EU-Ratspräsidenten vorbringen. In Frankreich haben wir verstanden, dass die Kultur- und Kreativwirtschaft eine Rolle für unsere Identität, aber auch für unsere Wirtschaft spielt. Das gilt aber auch für Deutschland, und die Neue Allianz der Kultur- und Kreativwirtschaft, k3d, an der Florian Drücke maßgeblich beteiligt ist, ist ein Beweis dafür.

Der deutsch-französischen Freundschaft kommt nach dem Brexit als Achse der EU womöglich noch mehr Bedeutung zu. Was können Kultur- und Kreativwirtschaft da beitragen?

Descôtes: Sie haben Recht, in dieser traurigen Angelegenheit des Brexit haben Deutschland und Frankreich sehr eng zusammengearbeitet und tun es immer noch, um das europäische Interesse und alles, was wir in den letzten siebzig Jahren aufgebaut haben, zu verteidigen. Im kulturellen Bereich sollte uns der Brexit ermutigen, die Mehrsprachigkeit stärker zu verteidigen. Natürlich ist es wichtig, Englisch zu sprechen, aber ebenso wichtig ist es, eine zweite europäische Fremdsprache zu beherrschen und sie bis zum Abitur zu lernen. Es wäre seltsam, wenn wir uns innerhalb der EU mit einer Sprache austauschen würden, die nur noch von einer winzigen Minderheit der europäischen Bürger als Muttersprache gesprochen wird, viel weniger als Deutsch und Französisch. Lasst uns die Sprache unseres Nachbarn lernen!

Drücke: Die Kultur- und Kreativwirtschaft als extrem vielfältige, partnerschaftlich geprägte Branche kann diesbezüglich meines Erachtens aktuell vor allem zweierlei beitragen: Zum einen real das deutsch-französische Verhältnis leben, zum anderen kann gerade die Kreativwirtschaft zeigen, in welcher gesamtgesellschaftlichen Veränderung wir leben, wie sich Wertschöpfung, Arbeit und Partnerschaft verändert und welche Notwendigkeiten sich daraus ergeben. Die Branche kann an so vielen Stellen zeigen, welchen Einfluss das Digitale auf Schaffens-, Verbreitungs- und Nutzungsprozesse hat und damit in wirtschaftliche und kulturelle Realitäten vordringt, ohne dabei das Analoge, das Reale, die Begegnung zu vernachlässigen.

Ist diese Achse stabil – auch nach der Bundestagswahl und der anstehenden Präsidentschaftswahl in Frankreich?

Descôtes: Die deutsche-französische Beziehung ist absolut stabil. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass Herr Scholz in seiner Zeit als Hamburger Bürgermeister Bevollmächtigter der Länder für die kulturellen Beziehungen zu Frankreich war und in dieser Funktion eine aktive Rolle gespielt hat (eines der Vermächtnisse seiner Zeit in dieser Funktion war das deutsch-französische Gymnasium in Hamburg, das im letzten Jahr eröffnet wurde), die dann von Armin Laschet mit großem Engagement weitergeführt wurde, insbesondere bei der Förderung der Sprache des Partners. Die deutsch-französischen Kultur- und Bildungsbeziehungen stehen mehr denn je auf höchster Ebene auf beiden Seiten des Rheins auf der Tagesordnung!

Drücke: Davon bin ich überzeugt.

Madame Descôtes, Sie sind schon seit frühester Jugend per Schüleraustausch zu Gast in Deutschland gewesen und haben hier später auch studiert. Haben Sie deutschsprachige/deutsche Lieblingsmusik?

Descôtes: Deutschland ist ein großartiges Musikland, und ich schätze es sehr, die Qualität seiner musikalischen Darbietungen genießen zu können, bei denen oft große französische Talente das deutsche Repertoire interpretieren - in diesem Zusammenhang habe ich am Montag eine Veranstaltung mit der Berliner Staatsoper organisiert. Aber wenn wir schon von den deutsch-französischen Beziehungen sprechen, möchte ich auch Zweierpasch erwähnen, die Hip-Hop-Gruppe aus unseren beiden Ländern, die im Grenzgebiet am Oberrhein lebt!

Herr Drücke, was sind ihre französischen Musikfavoriten? Und wie kam es zu ihrer engen Beziehung zu Frankreich? Sie wurden ja erst 2020 mit dem Deutsch-Französischen Preis der Kultur- und Kreativwirtschaft als „Persönlichkeit des Jahres“ ausgezeichnet.

Drücke: Mein breitgefächerter persönlicher Musikgeschmack hat mich bereits früh vom französischen Hip-Hop bis hin zur Klassik vieles finden lassen und ich bin nach wie vor relativ nah am französischen Geschehen. Für meine Nähe zu Frankreich gibt es letztlich drei verschiedene Begründungen: Erstens kam ein Teil meiner Familie als Hugenotten aus Avignon nach Deutschland. Das war der Grund, den meine Großmutter manchmal genannt hat. Zweitens: Ich hatte unfassbares Glück mit meinen Französisch-Lehrerinnen und hatte stets sehr gute Gastfamilien in Paris, Chartres, Montpellier und Toulon. Punkt drei:  Meine Eltern. Ihnen verdanke ich die Eröffnung der Perspektive und die Unterstützung auf meinem deutsch-französischen Weg, angefangen mit dem damaligen Ferienhaus in der Drôme, dann dem ersten Langenscheidt-Lexikon bis hin zur Ermöglichung diverser (Studien-)Aufenthalte. Der Preis letztes Jahr war sehr ehrenvoll, mit einer sehr feierlichen Verleihung in Paris, kurz bevor Corona so richtig ankam.

Welche Bedeutung hat deutsche Musik jenseits von Klassik und Rammstein heute in Frankreich - und umgekehrt?  

Drücke: Ich würde mir wünschen, wir würden mit der deutschen Sprache noch mehr Menschen auf der anderen Seite des Rheins erreichen, auch musikalisch. Aus persönlichen Begegnungen weiß ich, wie wichtig in Frankreich beispielsweise Tokio Hotel seinerzeit waren. Und natürlich gibt es sehr viel Musik, die aus Deutschland kommt, die in Frankreich viele Fans hat, zugegeben dann aber eben oft elektronische Musik, Jazz, Klassik oder englischsprachig.

Descôtes: Richtig, französische Musik, Literatur und Film sind heute in Deutschland präsenter als umgekehrt. Aber das Beispiel von Tokio Hotel soll zeigen, dass ein großer Erfolg in Frankreich für deutschsprachige Bands möglich ist! Dies erfordert natürlich Maßnahmen, die wir gemeinsam mit den deutsch-französischen Behörden durchführen, um unsere jeweiligen Sprachen zu fördern. Auch die Tätigkeit des Deutsch-Französischen Kulturrates, dessen Ko-Vorsitzender Florian Drücke ist, ist in dieser Hinsicht wichtig, denn unsere Kultur- und Kreativwirtschaft kann von einer Zusammenarbeit nur profitieren.

Herr Drücke, bei der Auszeichnung als deutsch-französische Persönlichkeit 2020  sagten Sie, die Kultur- und Kreativwirtschaft kann Brücken bauen, die weit über die deutsch-französischen Beziehungen hinausgehen. Inwiefern?

Drücke: Mein Eindruck ist, dass vieles, was im deutsch-französischen Netzwerk gedacht und gearbeitet wird, stets eine europäische Dimension hat. Ich bin insofern überzeugt, dass viele andere profitieren, wenn diese Brücke steht, weil sie sich in einen europäischen Gedanken einfügt. Aber konkret: Wenn eine deutsch-französische Tanzkompanie, eine deutsch-französische Band, eine deutsch-französische Filmproduktion oder ein deutsch-französisches Startup aus der Kreativwirtschaft erfolgreich ist, weil man aus dem deutsch-französischen Austausch etwas Neues schafft, dann bleibt der Erfolg hoffentlich nicht auf ein deutsch-französisches Publikum beschränkt. Im Politischen denke ich da ähnlich. Wieso sollte es nicht gelingen, auch andere Mitgliedsstaaten zu überzeugen, wenn man in einem regulatorischen Bereich eine konkrete deutsch-französische Lösung gefunden hat. Das setzt voraus, dass man sich in die komplexe Realität des Gegenübers hineinversetzt, voneinander lernt und zu Kompromissen bereit ist, die man dann auch gemeinsam vertreten muss.

Descôtes: Mit Initiativen in der Kultur- und Kreativwirtschaft Brücken zwischen den Ländern Europas zu bauen, ist mehr denn je notwendig für ein lebendiges Europa der Teilhabe. Die deutsche-französischen Initiativen haben in dieser Hinsicht Vorbild Charakter.

Ressortleitung Stv. Kulturchef

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