Es ist eine überaus prägnante Szene: Der alte Mann De Lacy pfeift, ganz für sich allein, einen Song. Es ist „Life On Mars“ von David Bowie, dem großen, immer ungreifbar außerweltlich gebliebenen Pop-Monolithen. Und das Wesen, das außerhalb des Blickfelds von De Lacy steht, das Wesen, das ein Ausgestoßener und Ungeliebter ist, versucht, es De Lacy gleichzutun. Noch ungelenk klingt das, aber man spürt: Da ist Sehnsucht, da ist Lebensfeuer, da ist Gefühlstiefe in ihm.
Das Wesen ist Frankenstein - womit die gleichnamige Inszenierung am Mannheimer Nationaltheater ganz bewusst aus der beständigen Verwechslung von Schöpfer und Geschöpf, die seit jeher mit dieser Erzählung einhergeht, eine nach Identität tastende Realität formt: Die Kreatur erscheint mithin als Mitglied der Familie Frankenstein. Doch eines, dem nie ein Vorname gegeben wurde.
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„Victor, ich bin einsam und elend. Menschen wollen nichts mit mir zu tun haben“, wird Frankenstein zu dem Mann sagen, der ihn erschaffen hat. „Ich bin böse, weil ich unglücklich bin.“ Wobei man sich schwertut, besagtes Böse in ihm zu sehen. Das Wesen, das Darsteller Omar Shaker hier in Sanftmut und Verlorenheit kleidet, ist kein „Dämon“, wie Victor Frankenstein es in Mary Shelleys Schauerroman nennt. Kein gefallener Racheengel, sondern eine jählings in die Welt geworfene und dort allein zurückgelassene Seele.
Regisseurin Nazli Saremi hat diese Bühnenfassung, die im Studio Werkhaus des Nationaltheaters ihre Premiere feiert, nach Shelleys Buchvorlage zusammen mit Dramaturgin Dominika Iroka, Bühnenbildnerin Nora Müller, Kostümbildner Marco Pinhero und dem Ensemble kreiert. Ihr Frankenstein ist auch der Erscheinung nach kein Monster. Zwar weist er Wundmale auf dem Körper und dem Gesicht auf, über dem er eine durchsichtige Plastikmaske trägt; zwei weiße Strähnen durchziehen das lange Haar (was Elsa Lanchester im 1935er-Filmklassiker „Frankensteins Braut“ visuell zitiert). Fast alle anderen Figuren tragen platinblonde Perücken, allenthalben sind sie in Gothic-affines Lackleder-Ornat gehüllt.
Etwas anders als die Vorlage
Bezwingend klar gestaltet ist die Bühne, die sich, wie von dunklem Sichtbeton umrahmt, über zwei simultan bespielbare Stockwerk-Ebenen erstreckt. Unten öffnet sich hinter halbtransparenten Schiebetüren der Spielraum in die rückwärtige Tiefe. Saremis „Frankenstein“ hält sich teilweise eng an den Originaltext, nimmt zugleich aber einige Neu-Schreibungen vor. In zwei wesentlichen Schritten entfernen sich die Regisseurin und ihr junges Team dabei von der Briefroman-Vorlage: Sie verschieben den Fokus auf die Perspektive des Wesens (womit auch eine Reduktion des Protagonisten-Kreises einhergeht) und stellen zudem die Nebenfiguren in den Vordergrund, ermächtigen sie zu Handelnden - allen voran die der Elisabeth, Mündel von Victor Frankensteins Eltern und zugleich dessen zukünftige Ehefrau.
Sarah Zastrau spielt sie zwischentonreich und entschlossen, formt aus der vergleichsweise passiven Figur einen Schlüssel-Charakter. Patrick Schnickes Victor erscheint dagegen geradezu halbstofflich, distanziert und kühl wie dünnes, brüchiges Eis - menschlich und moralisch. Eine absolute Schauspiel-Neuentdeckung ist Justin Leontine Woschni, derzeit im Abschlussjahr an der Akademie für Darstellende Kunst Baden-Württemberg in Ludwigsburg: Woschni reüssiert in Dreifach-Besetzung als Victors junger Bruder William (der dem Wesen versehentlich zum Opfer fällt), als Zimmermädchen Justine (die dafür fälschlich als Täterin hingerichtet wird) und als De Lacey, dessen Freundschaft die Kreatur (vergeblich) sucht.
Dieser „Frankenstein“ versteigt sich nicht in theatrale Spielereien, sondern besticht dadurch, dass man das Ensemble seine darstellerischen Talente (aus)spielen lässt - eine wirklich gelungene Inszenierung.
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