Es ist eine überaus prägnante Szene: Der alte Mann De Lacy Pfeift, ganz für sich allein, einen Song. Es ist „Life On Mars“ von David Bowie, dem großen, immer ungreifbar außerweltlich gebliebenen Pop-Monolithen. Und das Wesen, das außerhalb des Blickfelds von De Lacy steht, das Wesen, das ein Ausgestoßener und Ungeliebter ist, versucht, es De Lacy gleichzutun. Noch ungelenkt klingt das, aber man spürt: da ist Sehnsucht, da ist Lebensfeuer, da ist Gefühlstiefe in ihm. Das Wesen ist Frankenstein – womit die gleichnamige Inszenierung am Mannheimer Nationaltheater ganz bewusst aus der beständigen Verwechslung von Schöpfer und Geschöpf, die seit jeher mit dieser Erzählung einhergeht, eine nach Identität tastende Realität formt: Die Kreatur erscheint mithin als Mitglied der Familie Frankenstein. Doch eines, dem nie ein Vornamen gegeben wurde.
Victor, ich bin einsam und elend. Menschen wollen nichts mit mir zu tun haben
„Victor, ich bin einsam und elend. Menschen wollen nichts mit mir zu tun haben“, wird Frankenstein zu dem Mann sagen, der ihn erschaffen hat. „Ich bin böse, weil ich unglücklich bin.“ Wobei man sich schwertut, besagtes Böse in ihm zu sehen. Das Wesen, das Darsteller Omar Shaker hier in Sanftmut und Verlorenheit kleidet, ist kein „Dämon“, wie Victor Frankenstein es in Mary Shelleys Schauerroman nennt. Kein gefallener Racheengel, sondern eine jählings in die Welt geworfene und dort allein zurückgelassene Seele.
- Regisseurin Nazli Saremi und ihr Team haben ihre „Frankenstein“-Bühnenfassung am Mannheimer Nationaltheater nach dem Roman von Mary Shelley (aus dem Englischen von Ursula Grawe und Christian Grawe) kreiert. Die Namen der Figuren werden in dem Stück in der englischen Schreibweise wiedergegeben.
- Das Schauspiel wird wieder am 15. und 29. Januar sowie am 5. Februar (ausverkauft), am 8. Februar (Restkarten) und am 12. Februar (ausverkauft) im Studio Werkhaus aufgeführt.
- Die englische Schriftstellerin Mary Shelley, geborene Mary Godwin, lebte von 1797 bis 1851. Ihr 1818 erschienenes Werk „Frankenstein“ (oft auch: „Frankenstein oder Der moderne Prometheus“) ist eine Mischung aus Ich-Erzählung und Briefroman. Sie begann das Buch im Zuge eines Aufenthalts mit ihrem zukünftigen Mann Percy Shelley bei Lord Byron im Sommer 1816 am Genfersee. 1816 sollte infolge des Ausbruchs des Vulkans Tambora als das „Jahr ohne Sommer" in die Geschichte eingehen. Die Gesellschaft beschloss, dort jeweils eine Schauergeschichte zu schreiben und den anderen vorzutragen. So wurde der Grundstein zu „Frankenstein“ gelegt.
Regisseurin Nazli Saremi hat diese Bühnenfassung, die im Studio Werkhaus des Nationaltheaters ihre Premiere feiert, nach Shelleys Buchvorlage zusammen mit Dramaturgin Dominika Široka, Bühnenbildnerin Nora Müller, Kostümbildner Marco Pinhero und dem Ensemble kreiert. Ihr Frankenstein ist auch der Erscheinung nach kein Monster. Zwar weist er Wundmale auf dem Körper und dem Gesicht auf, über dem er eine durchsichtige Plastikmaske trägt; zwei weiße Strähnen durchziehen das lange Haar (was Elsa Lanchester im 1935er-Filmklassiker „Frankensteins Braut“ visuell zitiert). Fast alle anderen Figuren tragen platinblonde Perücken, allenthalben sind sie in Gothic-affines Lackleder-Ornat gehüllt. Bezwingend klar gestaltet ist die Bühne, die sich, wie von dunklem Sichtbeton umrahmt, über zwei simultan bespielbare Stockwerk-Ebenen erstreckt. Unten öffnet sich hinter halbtransparenten Schiebetüren der Spielraum in die rückwärtige Tiefe.
Saremis „Frankenstein“ hält sich teilweise eng an den Originaltext, nimmt zugleich aber einige Neu-Schreibungen vor. In zwei wesentlichen Schritten entfernen sich die Regisseurin und ihr junges Team dabei von der Briefroman-Vorlage: Sie verschieben den Fokus auf die Perspektive des Wesens (womit auch eine Reduktion der Protagonisten-Kreises einhergeht) und stellen zudem die Nebenfiguren in den Vordergrund, ermächtigen sie zu Handelnden – allen voran die der Elisabeth, Mündel von Victor Frankensteins Eltern und zugleich dessen zukünftige Ehefrau. Sarah Zastrau spielt sie Zwischenton-reich und entschlossen, formt aus der vergleichsweise passiven Figur einen Schlüssel-Charakter. Patrick Schnickes Victor erscheint dagegen geradezu halbstofflich, distanziert und kühl wie dünnes, brüchiges Eis - menschlich und moralisch. Eine absolute Schauspiel-Neuentdeckung ist Justin Leontine Woschni, derzeit im Abschlussjahr an der Akademie für Darstellende Kunst Baden-Württemberg in Ludwigsburg: Woschni reüssiert in Dreifach-Besetzung als Victors junger Bruder William (der dem Wesen versehentlich zum Opfer fällt), als Zimmermädchen Justine (die dafür fälschlich als Täterin hingerichtet wird) und als De Lacey, dessen Freundschaft die Kreatur (vergeblich) sucht. Dieser „Frankenstein“ versteigt sich nicht in theatrale Spielereien, sondern besticht dadurch, das Ensemble seine darstellerischen Talente (aus)spielen zu lassen - eine wirklich gelungene Inszenierung.
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