Brachiale Kunstpraktiken gab es einige in den 1960er Jahren, besonders in der Gruppe der französischen Nouveaux Réalistes. Plakatabrisse zählten zu den eher gemäßigten Formen, schlichter Abfall wurde zum Material. Yves Klein bearbeitete Leinwände mit dem Flammenwerfer, und Niki de Saint Phalle inszenierte sich beim Schießen auf Bilder und Figuren, die sie mit Farbbeuteln versehen hatte, oder bewarf sie mit Messern. Mehr als damit verbindet die breite Öffentlichkeit mit ihr aber seit langem die mal größeren oder kleineren Nana-Figuren, die als Bilder weiblicher Selbstakzeptanz und Selbstermächtigung zu Ikonen der modernen Kunst wurden.
Niki de Saint Phalle also, die im Mai 2002 71-jährig verstarb, eine so sensible wie eigensinnige Frau und Künstlerin in einer von Männern dominierten Gesellschaft, dazu hochattraktiv, was es wohl nahelegte, dass sie sich zunächst als Fotomodell und Schauspielerin versuchte. Man fragt sich, warum eigentlich erst jetzt ihr Leben auf die Leinwand kommt in Form eines kompakten Spielfilms. Das von Céline Sallette inszenierte Werk, das schlicht so heißt wie die Künstlerin und in Cannes Premiere feierte, ist gleichsam eine späte Ergänzung zum gleichnamigen Dokumentarfilm von Peter Schamoni, der sie vor fast 30 Jahren während ihrer künstlerischen Arbeit begleitete.
Rückblenden in die Jugend erzählen von Missbrauch
Dort erlebte man sie auf der Höhe ihres Schaffens und Ruhms. Der neue Film dagegen widmet sich den Anfängen und erzählt nah an der von Charlotte Le Bon sensibel-zerbrechlich und überzeugend verkörperten Person, wie sie zur unverwechselbaren Künstlerin wurde. Dabei führt ihr Weg zu sich selbst auch von einem Mann zu einem anderen, vom Autoren Harry Matthews, mit dem sie in den 1950er Jahren aus den USA nach Paris übersiedelte und gemeinsam zwei Kinder hatte, zum Maschinen-Künstler Yves Tinguely. Typische (Macho-) Männer sind beide nicht, aber die gibt es in dem Spielfilm natürlich ebenso, in der erzählten Gegenwart wie in gelegentlichen Rückblenden in Nikis Jugend, die sie als aufbegehrendes, unangepasstes Mädchen zeigen und auch vom sexuellen Missbrauch durch ihren Vater erzählen.
Es sind vor allem die inneren Kämpfe der Niki de Saint Phalle, die man hier erlebt, ihr Leid, ihre Traumata, aber immer wieder auch ein Hauch von Glück und Enthusiasmus. Dabei pendelt der souverän inszenierte und fotografierte Film zwischen engen Zimmern und Ateliers und freier Natur; pastellartige Farbtöne überwiegen, wohltuend vermieden wird hier sowohl der Weichzeichner wie die grelle Überzeichnung – oder eben die allzu klare Stilisierung zur weiblichen Heldin und Kämpferin für Gleichberechtigung. Dafür war die Person der Künstlerin, die zeitweilig in der Psychiatrie lebte, zu sehr ein gebrochener Charakter. Ihr Weg zu sich selbst beeindruckt angesichts dieser Voraussetzungen freilich umso mehr.
Der Film macht einige Zugeständnisse an ein populäres Medium, sprich: Er spitzt zuweilen ordentlich zu. Er bleibt dabei aber immer sehenswert. Und er ist ehrlich bemüht, der Person Niki de Saint Phalles und demjenigen, wofür sie stehen kann und was man in ihr sehen möchte, gerecht zu werden.
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