Ludwigshafen. Theaternebel steigt durch Schlitze an der schwarzen Brandmauer. Noch erahnen wir nur schemenhaft einzeln vorbeihuschende Figuren. Es sind Tänzerinnen und Tänzer von Emanuel Gat Dance. Körperlich wie buchstäblich sind sie eingesprungen für Kollegen, denen die Tournee zu den Festspielen Ludwigshafen nicht möglich ist. Geplant war ein Abend mit der israelischen Batsheva Dance Company, die wegen der politischen Situation nicht kommen kann. Die 1964 von Martha Graham und Bethsabée (Batsheva) de Rothschild gegründete Compagnie genießt bis heute Weltruf - wie nur Ersatz finden?
Tel Aviv ist in normalen Zeiten eine quirlige Tanzmetropole. Auch Emanuel Gat, einst Hauschoreograph der Liat Dror Nir Ben Gal Company, hatte 2004 dort seine eigene Company gegründet. Seit Jahren hat er seine choreographische Heimat in Frankreich gefunden. Von Istrès-en-Provence hat nun seine Truppe mühelos nach Ludwigshafen gefunden, kein Trostpflaster, sondern hochkarätiger Ersatz, wie sich zeigen sollte.
Statt „Momo“ aus Israel nun „Lovetrain 2020“ aus Südfrankreich. Der Werkname, Freunde englischer Popmusik und der 1980er Jahre haben bei dem Titel ohnehin schon gezuckt, ist eine Hommage an jene Zeit und natürlich an die hymnischen Songs der Formation um Roland Orzabal und Curt Smith.
Pop auf der Tanzbühne, das ist ungewöhnlich, wo dort doch sonst eher Minimal Music, Geräuschgewummer oder hehre Klassik betanzt wird. Die Pop-Songs, die das Lebensgefühl einer ganzen zwischen Startbahn West, NATO-Doppelbeschluss, Wackersdorf, Schulterpolstern, Glam-Pop und „Dallas“ schwankenden Wohlstandsgeneration zum Ausdruck bringt, scheinen sonst doch eher für „Ü-40-Partys“ und das Versacken nach dem Klassentreffen zu taugen. Irrtum. Große Musik, großes Tanztheater - und hernach natürlich großer Jubel eines stehenden Publikums sprechen da im Pfalzbau eine andere Sprache.
Ideen als Opium
Mit „Say me, what you want“, sag mir, was du willst aus „Ideas As Opiates“ fängt es an. Wer aber Disco-Party oder ein 80er Musical erwartet, täuscht sich. Zu erleben ist zwar eine Ode an Sound und Stimmung besagten Jahrzehnts, aber eben als Fortsetzung von Gats choreographischen Berührungserkundungen. Im Pulk nähern sich Gruppen mit ausladenden Gesten, auch ein sich wiederholendes kollektives Kreisen und Rennen ist auszumachen, eine Suche nach Gemeinschaft, Ideen und Identitäten. Dass dazwischen häufig Secco-Passagen, stille, intime Bewegungen ohne einen einzigen musikalischen Begleitton zu sehen sind, macht die Spannung des Konzepts aus. Gat sucht Linien, auch in den Körpern der Tanzenden, bezieht in seine Choreographie selbst a cappella das Musikalische mit ein wie auch das Visuelle.
Hier sind die Kostüme von Thomas Bradley sicher die augenfälligsten Mittel. Das zwölfköpfige Ensemble ist eigentümlich gewandet. Es sind keine Schulterpolster, Dauerwellen, Fledermausärmel oder Polka-Dots; einen Textil-Transfer muss man schon leisten: In lange, den Tanz teils durchaus behindernde Röcke mit schweren Volants, geplusterte Schals, aufwendig bestickte Roben sind diese Peergroup-Sucher gekleidet. Sie wirken wie aus Gemälden geschnitten, Kunsthistoriker haben hier ihre Freude. „Der Schwur der Horatier“, „Judith und Holofernes“, „Moses und Aaron“ und vielleicht auch „Die Ermordung Cäsars“: „Everybody Wants To Rule The World“ oder schlicht „Mad World“ lässt sich dazu sagen - und singen. Dem Boomer blieb darin nur die Suche nach „Pale Shelter“, also dem fahlen Schutz, der hier in berührenden Pas de deux, körperlichen Annäherungen, Beugebewegungen und Gruppenfindungsversuchen zu sehen ist.
„Shout“ und „Pale Shelter“
Schutz konnte man - und kann Jugend auch heute - in Musik und Lifestyle finden, einem äußerlichen Zusammengehörigkeitsgefühl vermeintlich Gleichgesinnter, zu dem einst freilich auch der utopische Drive und epische Groove von Tears for Fears gehörte. Lass es raus! Mit weit ausgebreiteten Armen lässt sich „Shout, Let It All Out“ eben am besten tanzen.
Dieser Liebeszug fährt in Sachen Bewegung und Klang Richtung unendliche Möglichkeiten. Es ist an diesem bejubelten Abend fraglos auch eine politische Botschaft mit Tiefgang. Wenn es gut läuft, ist dieser Zug noch nicht abgefahren und fährt mit diesem exzentrisch-beschwingten Tanzstück auf den Acker, wo die Samen der Liebe ausgesät werden. „Sowing the Seeds of Love“. Schön wäre es - oder um es mit Orzabal und Smith zu sagen: „Everybody Loves A Happy Ending“.
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