Als Wolfgang Herrndorf Anfang 2010 die Diagnose eines unheilbaren Hirntumors erhielt, entwickelte er binnen kurzer Zeit, was die Herausgeber dieses Bandes ein „klares Nachweltbewusstsein“ nennen: Binnen weniger Monate stellte er seinen vor Jahren angefangenen Jugendroman „Tschick“ fertig und schuf in manischen Produktionsschüben weitere Texte, die ihn überleben und sein Bild als Künstler bestimmen sollten. Gleichzeitig sonderte er rigoros alles aus, was ihm unfertig, ungenügend oder angesichts seiner künstlerischen Entwicklung überholt schien.
Folgt man seinem Blog-Tagebuch „Arbeit und Struktur“, muss er eine ganze Menge Material vernichtet haben, jedenfalls ein Vielfaches von dem, was veröffentlicht wurde. Zu dem, was zur Publikation erhalten blieb, gehört ein Konvolut von Texten, die zu Lebzeiten des Autors die begrenzte Öffentlichkeit des Literaturblogs „Wir höflichen Paparazzi“ gefunden hatten. Der war für Herrndorf eine Probebühne, auf der er vor Gleichgestimmten das Funktionieren neuer Texte ausprobieren konnte. Kein Wunder also, dass in der vorliegenden Auswahl der „Paparazzi“-Texte sich immer wieder Bezüge zu den veröffentlichten Büchern ergeben – teilweise mit Abweichungen, die auf intensive Bearbeitung schließen lassen. Bestimmte Konstellationen kommen dem Herrndorf-Leser jedenfalls bekannt vor. Etwa eine Fahrt ins Blaue mit einem entwendeten Schrottauto. Es ist nicht der Lada aus „Tschick“, sondern der klapprige Wartburg des Schriftsteller-Kollegen Lottmann.
Charmante Verliererfiguren
Andere Texte waren wohl Probeläufe für Episoden des Debütromans „In Plüschgewittern“. So etwa das Unglück eines Pubertierenden, für den seine Mutter Verabredungen mit Gleichaltrigen trifft; sie fühlt sich dabei besser – ihm ist das unsäglich peinlich. Oder die Betrachtungen eines ungeschickten jungen Mannes, der sich mangels praktischer Erfolge auf diesem Gebiet eine Theorie des Flirtens zurechtmacht.
Man kann an dieser Zusammenstellung noch einmal studieren, wie der nüchterne Romantiker Herrndorf seine Figuren als charmante Verlierer anlegt, die er mit einem hohen Maß an Selbstironie und Sprachwitz ausstattet. So können sie den eigenen Defiziten und der Aussichtslosigkeit ihrer Lage Erkenntnisgewinne und humoristischen Mehrwert abgewinnen, der aber nie ins gewollt Versöhnliche umschlägt. Herrndorf kultivierte das Widerborstige, bis hin zum kalkulierten Verstoß gegen die Gebote der politischen Korrektheit. Das ist jetzt nachzulesen in den sich mehr und mehr verhakenden Überlegungen einer Erzählerfigur, warum jemand mit seinen Ansichten besser keine Einladung zum Schöffendienst hätte erhalten sollen.
Erfrischende Respektlosigkeit
In einer Abteilung dieser Auswahl kommt Herrndorf im Plauderton auch auf poetologische Fragen zu sprechen – und das mit erfrischender Respektlosigkeit vor allen Großtheorien, die immer schon zu wissen meinen, was Literatur solle und wie man schreiben müsse oder nicht mehr schreiben könne. Ob es um autobiographisches Schreiben oder engagierte Literatur geht – „Autoren sollten überhaupt keine allgemeinen Ansichten über Literatur vertreten, und auch Nicht-Autoren sollten das nicht. … Es gibt keine Literaturtheorie, … es gibt nur die Kunst und den Mist.“
Wer so selbstbewusst (und dabei nicht einmal auftrumpfend) alle Sekundärdiskurse über Literatur in die Schranken weist, muss sich seiner Könnerschaft sicher sein. Herrndorf-Freunde können sich dieses Vermögens hier noch einmal versichern – zum definitiv letzten Mal. Es wird, so versichern die Herausgeber, keine weiteren Texte aus dem Nachlass mehr geben.
Kurzes Leben eines begabten Autors
- Der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf wurde 1965 in Hamburg geboren. 2002 erschien sein Debütroman „In Plüschgewittern“. Mit „Diesseits des Van-Allen-Gürtels“ erschien 2007 eine Reihe zusammengehöriger Kurzgeschichten.
- Zu seinen großen Erfolgen zählt der Bildungsroman „Tschick“. 2016 verfilmte Fatih Akin die Geschichte um die 14-jährigen Protagonisten, die mit einem Auto quer durch Ostdeutschland in Richtung Walachei fahren.
- Im Februar 2010 wurde ein unheilbarer Hirntumor bei Herrndorf diagnostiziert. Der Schriftsteller begann ein digitales Tagebuch: In „Arbeit und Struktur“ schrieb er über sein Leben mit der Krankheit. Herrndorf starb 2013 in Berlin. Sein Blog erschien posthum bei Rowohlt.
- Wolfgang Herrndorf: „Stimmen. Texte die bleiben sollten“. Herausgegeben von Marcus Gärtner und Cornelius Reiber. Rowohlt, Berlin. 194 S., 18 Euro.
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