Heidelberg. Herr Kern, Sie stellen Enjoy Jazz 2024 unter das Motto „Healing“. Ist Heilung durch Musik schon möglich? Man hat eher das Gefühl, dass ständig neue Wunden geschlagen werden vielerorts…
Rainer Kern: Heilung ist auf jeden Fall notwendig. Ich glaube schon, dass Kunst – und Musik als Teil von Kunst – dazu beitragen kann. Aber die Heilung, die in unseren Gesellschaften notwendig ist, kann man nicht nur durch ein einzelnes Mittel erzeugen.
Zur Person und zum Festival
- Rainer Kern, geboren 1965 in Mannheim, hat das Festival Enjoy Jazz 1999 in Heidelberg am Karlstorbahnhof gegründet. Seit 2000 findet es auch in Mannheim, seit 2002 auch in Ludwigshafen statt.
- Enjoy Jazz ist das größte Jazz-Festival Deutschlands. Die 26. Ausgabe beginnt 2024 am 2. Oktober im BASF-Feierabendhaus mit einem Konzert von Vijay Iyer und Nduduzo Makhathini.
- Der Pianist Makhatini ist wie die ebenfalls aus Südafrika stammende Fotokünstlerin Zanele Muholi Artist-in-Residence des Festivals, das Rainer Kern unter das Motto „Healing“ gestellt hat.
- Programm: enjoy-jazz.de
Sie haben 2024 zwei Residenzkünstler aus Südafrika eingeladen: den Pianisten Nduduzo Makhathini und die nichtbinäre Fotokünstlerin Zanele Muholi. Warum wieder ein Duo?
Kern: Weil wir schon gute Erfahrungen mit zwei Artists-in-Residence gemacht haben. Das hat dazu geführt, dass sie sich bei uns kennengelernt und Arbeiten zusammen produziert haben. Das fanden wir schön. Außerdem macht es unser Festival ein bisschen nachhaltiger, weil diese Künstlerinnen und Künstler mehrere Shows spielen, aber nur einmal anreisen. Zanele Muholi war ja letztes Jahr schon da und total begeistert vom Festival. Von daher haben wir gesagt: „Dann komm doch einfach wieder.“ Und Nduduzo Makhathini hatten wir schon während der Pandemie eingeladen – mit einem französischen Trio wegen der Reisebeschränkungen. Seitdem verfolge ich seine künstlerische Arbeit, wir haben uns oft getroffen, und ich finde toll, was er macht. Er ist einer der Musiker der Stunde. Er ist ein sehr interessanter und herzlicher Mensch – außerdem ausgebildeter Heiler. So hat das alles gut gepasst.
Kam das Motto durch ihn zustande?
Kern: Nein. Das Motto hat sich mir einfach aufgedrängt – ohne dass wir nach einem Motto gesucht haben. So war es bei „Trust“ im Vorjahr auch. Jetzt aus genau den Gründen, die Sie in der ersten Frage angedeutet haben: Die zunehmenden Verwerfungen, und dann kommt immer noch eine neue Krise…Wenn man sich mit Leuten darüber unterhält, wie man solche Krisen bewältigen kann, fällt immer wieder das Wort Heilung. Dann habe ich festgestellt, dass ganz viel Kunst und Musik, die mich zurzeit interessiert, damit zu tun hat. Zum Beispiel die Musik von Nduduzo.
Beide Residence-Artists sind Landsleute. Weil Südafrika ein gutes Beispiel für gesellschaftliche Heilung ist?
Kern: Ich will mich gar nicht so sehr auf Südafrika fokussieren. Meine Erfahrungen mit dem Land, und auch aus Gesprächen mit den beiden, ist, dass Heilung ein großes Thema war und ist bei der Entwicklung der Post-Apartheid Gesellschaft. Dazu gehört aber, dass es ein fortlaufender Prozess ist – und bleibt.
Einige britische Musiker, die 2023 zu Gast waren, haben sich zum Beispiel in den sozialen Medien eindeutig für Palästina positioniert. Wie verhält sich Enjoy Jazz dazu?
Kern: Wir haben eine klare Position. Wir befördern Demokratie und Verständigung durch Kunst. Und schon seit es das Festival gibt, haben wir eine sehr enge Verbindung zu Israel und zu israelischen Künstlern. Wir beenden das Festival ja auch mit Avishai Cohen, mit dem wir schon seit Jahren zusammenarbeiten.
Wie gehen Sie mit Befürwortern der BDS-Boykottbewegung gegen Israel um?
Kern: Wir unterstützen den BDS nicht. Weder die Idee noch die Organisation. Wir boykottieren auch niemanden.
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Aber Sie würden Künstlerinnen oder Künstler nicht einladen, wenn sie sich für die Hamas aussprechen – oder für Wladimir Putin und seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine?
Kern: Natürlich würde ich die nicht einladen. Aber das hat nichts mit Boykott zu tun. Man kuratiert ja. Dabei spielen viele Faktoren eine Rolle. Ich würde auch keine Nazi-Band einladen. Wir haben uns zu diesen Themen immer geäußert und verhalten. Am 24. Mai präsentieren wir zum Beispiel einen Ukraine-Abend mit unter anderem dem Büchner-Preisträger Marcel Beyer und unserem Freund Yurij Gurzhy, dem jüdisch-ukrainischen Autor, Musiker und DJ.
Werden Sie als politisch bewusster Festivalmacher mit Enjoy Jazz noch stärker auf die aktuellen globalen Krisen reagieren? Das aktuelle Album des zweimal bei Enjoy Jazz 2024 vertretenen Vijay Iyer, der mit Makhathini das Eröffnungskonzert bestreitet, trägt ja nicht ohne Grund den Titel „Compassion“ – Mitgefühl. . .
Kern: Ja, absolut. Ich glaube, dass Kunst von der Zeit und dem Raum, in der sie entsteht, abhängt. Es gibt ein schönes Interview mit Vijay Iyer zu „Compassion“, in dem er das einerseits auch sagt. Aber andererseits entkoppelt er darin seine Musik auch vom Aktuellen. Unser Festival findet jetzt zum 26. Mal statt und hat sich immer mit aktuellen Fragestellungen beschäftigt. Ob das 2021 Intersektionalität war oder Ukraine. Auch letztes Jahr hatten wir im November zwei Encore-Veranstaltungen mit vier Bands aus Israel, die während des regulären Festivals nicht spielen konnten – weil sie nach der unvorstellbar bestialischen Terrorattacke vom 7. Oktober nicht reisen konnten. Wir haben also klare Positionen. Aber wir müssen nicht ständig über alles reden, sondern zeigen über unser Tun, wo wir stehen.
Was spielt dieses exklusiv zusammengestellte Duo Iyer/ Makhathini beim Eröffnungskonzert?
Kern: Keine Ahnung (lacht). Ich möchte deren beider Arbeit nicht durch Vorgaben beeinflussen oder einengen. Sie sind derzeit noch im Prozess. Das wird eine Weltpremiere.
Wie sehr erschwert die Reduzierung der Sponsoringaktivitäten der BASF die Realisierung aufwendiger Festivalproduktionen? Das ausverkaufte Gastspiel von Pat Metheny setzt am 18. Oktober im BASF-Feierabendhaus ein positives Signal. Aber ist in Zukunft ein Projekt wie die Ornette-Coleman-Hommage im vergangenen Jahr mit US-Solisten und der Staatsphilharmonie noch denkbar?
Kern: Es gibt das schöne Zitat „Prognosen sind schwierig, insbesondere wenn sie die Zukunft betreffen“. Ich sehe im Moment keinen Grund, warum solche Projekte nicht mehr möglich sein sollten. So etwas braucht immer besondere Planung. Da gibt es keine Regel, nach dem Motto: Es ist immer möglich oder nie wieder möglich. Da muss man von Mal zu Mal schauen. Aber so ein Projekt macht man sowieso nicht jedes Jahr.
Wie hoch ist der Fehlbetrag?
Kern: Darüber reden wir aus Stil- und Vertragsgründen nicht in der Öffentlichkeit. Aber er hindert uns momentan an nichts.
Ist auch bei der SAP, deren Gewinnmargen ebenfalls zurückgehen, eine Minderung der Festivalunterstützung möglich?
Kern: SAP ist 2023 in unserem Jubiläumsjahr wieder als Unterstützerin zum Festival zurückgekehrt – eine sehr schöne Geste zum 25. Festival, haben sie die Gründung 1999 doch mitermöglicht – und sind dabeigeblieben. Unverändert.
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Gastspiele internationaler Acts sind in der Region seit Brexit und Pandemie generell seltener geworden. Wird der Anteil (teurer) US-Stars bei Enjoy Jazz durch geringere Sponsoring-Einnahmen nicht zwangsläufig zurückgehen?
Kern: Da ich gar nicht in irgendwelchen (Länder-) Anteilen denke, kann ich mit der Frage wenig anfangen. Aber wir haben im Moment kaum jemanden nicht eingeladen, weil er zu teuer war. So etwas kann aber immer mal vorkommen in Verhandlungen. Es gibt aber einen Effekt, den ich seltsam finde.
So?
Kern: Nach der Pandemie hätte man ja denken können, dass alle etwas gemäßigt wieder anfangen. Weil ja klar ist, dass man alles erstmal wieder hochfahren muss. Aber es sind gleich viele wieder mit vollen Gagen eingestiegen und teilweise sehr hohen Forderungen. Wohl mit dem Gedanken, die Ausfälle der Pandemie aufholen zu müssen. Statt gemächlich gemeinsam etwas wieder aufzubauen. Das fand ich schade. Da habe ich manchmal schon gesagt: „Ach nein, da möchte ich nicht weiterverhandeln.“ Aber alles steigt ja immer, auch Gagen. Da muss man dann halt nicht alles mitmachen, das ist aber nichts Neues.
2023 waren viele, auch spektakuläre Enjoy-Jazz-Konzerte schlechter besucht als in der Vor-Corona-Zeit, etwa Alexandra Lehmler, das Ornette-Coleman-Konzert, das Gastspiel des EFG London Jazz Festivals. Hängt das damit zusammen, dass viele Leute weniger Geld im Portemonnaie haben?
Kern: Absolut. Diese multikrisenhafte Situation, in der wir leben mit Ukraine, Inflation, Nahost-Konflikt, Klimawandel. Das heißt erstens weniger Geld. Und zweitens leben wir nicht gerade in einer Atmosphäre, in der man jeden Abend sagt: „Hui, lass uns mal weggehen!“ Die neue Jugendstudie von Klaus Hurrelmann zeigt das ja: Depressionen nehmen zu. Seit drei Jahren nehme ich wahr, dass der negative Megatrend Mental Health an Bedeutung gewinnt. Das wird eine sehr wahrnehmbare Krise mehr sein in den nächsten Jahren. Da kommen viele Faktoren zusammen, die überall spürbar sind.
Nur nicht bei megateuren Mega-Events wie Konzerten von AC/DC, Taylor Swift oder Adele.
Kern: Ja. Aber das zeigt natürlich, dass es einen anderen emotionalen Background braucht, um sich auf etwas Neues einzulassen. Zu deiner Lieblingsband zu gehen, die seit 50 Jahren deine Lieblingsband ist, ist etwas ganz Anderes. Das erzeugt auch eine Form von Sicherheit. Das wollen die Leute einfach.
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