Festival

Donaueschinger Musiktage werden 100 Jahre alt

Von 
Georg Rudiger
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Björn Gottstein leitet die Donaueschinger Musiktage seit 2015. © dpa

Im vergangenen Jahr wurden die Donaueschinger Musiktage kurzfristig abgesagt – nun wird der 100. Geburtstag des Festivals gefeiert. Der künstlerische Leiter Björn Gottstein blickt nach vorne und zurück.

Von Georg Rudiger

Herr Gottstein, Sie stehen nicht nur vor der großen, auf vier Tage verlängerten Jubiläumsausgabe der Donaueschinger Musiktage zum 100. Geburtstag, sondern auch nach sechsjähriger Amtszeit vor Ihrem persönlichen Abschied als künstlerischer Leiter. Das diesjährige Festival ist Ihr letztes, bevor Sie zur Ernst-von-Siemens-Musikstiftung wechseln. Wie nervös sind Sie vor dem Festivalstart?

Björn Gottstein: Nervös bin ich nicht. Aber natürlich schon etwas aufgeregt, weil das Programm noch umfangreicher und komplexer als sonst ist. Wir gehen in diesem Jahr wirklich an unsere Grenzen. Und natürlich ist die Coronalage mit zahlreichen Auflagen immer noch ein Thema.

Redakteur und Leiter

Björn Gottstein wurde 1967 in Aachen geboren.

Er ist Redakteur für Neue Musik beim SWR in Stuttgart und seit 2015 Leiter der Donaueschinger Musiktage.

Gottstein erlernte zunächst den Beruf des Buchhändlers und studierte dann Musikwissenschaft, Germanistik und Volkswirtschaft in Köln.

Lehrtätigkeiten führten ihn an die TU Berlin, an die Hochschule für Musik Basel und die Universität der Künste Berlin.

Die Donaueschinger Musiktage gelten als das weltweit älteste und bedeutendste Festival für Neue Musik. Das Festival, das 1921 startete, zieht jährlich rund 10 000 Besucher an.

100 Jahre Donaueschinger Musiktage werden vom 14. bis 17. Oktober gefeiert. Mehr unter: www.donaueschingen.de/musiktage2021 her

Im Vorfeld sprachen Sie von der Schwierigkeit, bei diesem Festival für Neue Musik, das seinen Blick immer nach vorne richtet, wegen des Jubiläums zurückzuschauen. Wie haben Sie dieses Problem gelöst?

Gottstein: Lösen kann man dieses Problem nicht. Das Festival lebt von den Uraufführungen und von Werken, die in die Zukunft schauen. Ich wollte bei den Aufträgen den Komponisten nicht die Last des Jubiläums mit auf den Weg geben. Das, was zurückschaut, ist in andere Formen gebracht wie die von Markus Müller kuratierte Ausstellung und das von Michael Rebhahn und mir herausgegebene Buch „Gegenwärtig“ zu 100 Jahren Donaueschinger Musiktage. Künstlerisch gibt es aber auch eine Beschäftigung mit der Vergangenheit, beispielsweise arbeitet das afrikanische Duo Pungwe in seiner Klanginstallation mit dem musikalischen Archiv der Musiktage. Mit dem 3. Streichquartett Paul Hindemiths, das die allerersten „Donaueschinger Kammermusikaufführungen zur Förderung der zeitgenössischen Tonkunst“ am 31. Juli 1921 eröffnete, und Pierre Boulez’ „Polyphonie X“ aus dem Jahr 1951 haben wir auch zwei musikalische Referenzen bezüglich der Historie des Festivals im Konzertprogramm.

Die Donaueschinger Musiktage wurden unter fürstlicher Protektion 1921 bewusst als Kammermusikfestival gegründet, weil man nach den Schrecken des Ersten Weltkriegs jedes Pathos vermeiden wollte und einen direkten Dialog zwischen Musik und Publikum beabsichtigte. Gab es auch Skandale in der frühen Zeit?

Gottstein: Wichtig war sicherlich das Engagement von Paul Hindemith, der ja durchaus als „Bürgerschreck“ galt und der ab 1923 die Werk- und Komponistenauswahl mitbestimmte. Er formulierte aktuelle Themen wie „Musik für Laien“ oder „Elektrische Instrumente“. Er schuf auch experimentellere Formen wie Bertolt Brechts Lehrstück „Der Lindberghflug“ und schrieb gemeinsam mit Kurt Weill die Musik dazu.

Nachdem die Nationalsozialisten zwischen 1934 und 1945 in Donaueschingen ein völkisches Musikfestival installierten, erlebten die Donaueschinger Musiktage nach dem Zweiten Weltkrieg einen Neuanfang. 1950 übernahm der Südwestfunk die künstlerische Leitung und stellte sein Sinfonieorchester zur Verfügung. Was veränderte sich noch außer der Hinwendung von der Kammermusik zu groß besetzten Werken?

Gottstein: Die Musik war eine andere geworden. Der entscheidende Bruch ist ein ästhetischer hin zu Avantgarde. Das hat den Ruf von Donaueschingen bis heute geprägt. Natürlich steht das SWR Symphonieorchester jedes Jahr im Fokus – bei den kommenden Musiktagen sind noch zwei weitere Orchester aus Luxemburg und Luzern eingeladen. Und mit dem Vokalensemble und dem Experimentalstudio sind noch mehr SWR-Klangkörper dabei.

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Zumindest in den ersten Jahrzehnten nach dem Wiederbeginn war das Festival ein Avantgarde-Festival für ein internationales Spezialistenpublikum. Die normale Stadtbevölkerung stand dem elitären Treiben kritisch gegenüber. Wie ist das heute?

Gottstein: Nicht jeder Mensch in Donaueschingen ist ein Fan der Neuen Musik – und muss es ja auch nicht sein. Ich spüre aber in der Stadt ein hohes Maß an Anerkennung. Letztlich ist schon Neugier da. Gerade mit den Klanginstallationen erreichen wir auch die Donaueschinger.

Was waren für Sie die prägnantesten Skandale beim Festival? Pierre Boulez’ „Polyphonie X“ 1951, das Sie in diesem Jahr wieder im Programm haben?

Gottstein: Insgesamt ist das Festivalpublikum sehr leidenschaftlich und äußert sich nach den Uraufführungen deutlich. Das kann auch mal verletzend oder eben auch skandalträchtig werden. Pierre Boulez ist ausgepfiffen worden, aber einen Skandal hat er auch selbst verursacht, als 1958 ein Werk des von ihm nicht geschätzten Kollegen Hans-Werner Henze uraufgeführt wurde und er wenige Minuten nach Beginn gemeinsam mit Karlheinz Stockhausen und Luigi Nono den Saal verließ. Es gibt auch heute immer wieder Momente, in denen ein Komponist das Publikum provoziert und starke Unmutsäußerungen zu erleben sind, aber die Zeit der großen Skandale ist vorbei.

Mein Eindruck ist, dass die Donaueschinger Musiktage in den letzten Jahren stärker gesellschaftliche Fragen aufgreifen wie mit dem Flüchtlingsprojekt 2016 und sich auch um ein breiteres Publikum bemühen. Damit hat schon Ihr Vorgänger Armin Köhler begonnen, indem er Klanginstallationen in öffentliche, für jeden zugängliche Räume brachte. Warum waren Ihnen diese Aspekte wichtig in Ihrer Amtszeit?

Gottstein: Es ist wichtig, dass sich Neue Musik auch mit gesellschaftlich relevanten Themen beschäftigt. Musik ist zwar nicht die Kunstform, die am allerschnellsten auf aktuelle Ereignisse reagieren kann – oft vergehen auch Jahre. Bei Hannes Seidls Radioprojekt „Good morning, Deutschland“ von 2016, bei dem Geflüchtete für Geflüchtete Radio machen und das es übrigens heute noch gibt, regierte die Musik ganz unmittelbar auf eine gesellschaftliche Fragestellung. Aber wir haben auch immer Komponistinnen und Komponisten, bei denen das Politische keine exponierte Rolle spielt. Beides braucht die Kunst. Es muss auch eine abgeschottete Laborsituation geben können.

Und die Öffnung hin zu einem breiteren Publikum?

Gottstein: Die von Armin Köhler initiierte Klangkunst habe ich bewusst weitergeführt und dafür auch ungewöhnliche Orte gesucht wie für 2019 Kirsten Reeses Unterwassermusik im Schwimmbad einer Rehaklinik. Dieses Jahr wird mit Daniel Otts und Enrico Stolzenburgs Komposition „Donau/Rauschen“ die ganze Innenstadt bespielt. Hier wirken viele Musikgruppen aus Donaueschingen mit, einige Donaueschinger haben dafür auch ihre Wohnung zur Verfügung gestellt. Die Neue Musik hat in den letzten Jahrzehnten in Vermittlung viel investiert, um auch einem breiteren Publikum Zugänge zu schaffen. Ich habe das Gefühl, dass wir jetzt die Früchte dieser Arbeit ernten. Natürlich ist das Festival auch heute noch ein Ort, an dem sich die Fachwelt trifft, aber es sind auch viele interessierte Laien darunter.

Was wünschen Sie den Donaueschinger Musiktagen in der Zukunft?

Gottstein: Mit Lydia Rilling liegt meine Nachfolge in sehr guten Händen. Ich wünsche, dass die Musik bei den Donaueschinger Musiktagen weiterhin so genau und leidenschaftlich gehört wird – das ist einzigartig auf der Welt! Und dass die Neue Musik immer wieder zeigt, wie wichtig und relevant sie für unsere Gesellschaft ist.

Freier Autor Georg Rudiger beobachtet von Freiburg aus das Musikleben im Südwesten, der Schweiz und auch mal in Südafrika. Meistens schreibt er über Klassik, gelegentlich aber auch über Jazz und Pop, wenn er nicht gerade am Cello sitzt.

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