Die neapolitanische Saga von Elena Ferrante über die Beziehung zwischen Freundschaft und Hass zweier Frauen kommt im vierten Band zum Abschluss, der heute in deutscher Übersetzung erscheint. In „Geschichte des verlorenen Kindes“ hat die Autorin, die sich weiterhin hinter einem Pseudonym verbirgt, noch einmal weit ausgeholt. Das furiose Werk erzählt von zwei Frauen, deren Schicksal ungut miteinander verwoben ist.
Gegensätzliche Charaktere
Die eloquente und gebildete Elena, die inzwischen in höchsten Intellektuellenkreisen eine neue Heimat gefunden hat, und die im armen neapolitanischen Viertel, dem Rione, tief verwurzelte Lila sind von Kindheit an unlösbar miteinander verbunden. Aber das Verhältnis der durch erfolgreiche Romane und Sachbücher geadelten Elena und der bodenständigen Lila ist von Konflikten und Ambivalenzen geprägt: Vertrautheit und Fremdheit, Verständnis und Abwehr, Liebe und Hass – das spannungsreiche Wechselspiel zwischen Nähe und Distanz in der Beziehung der beiden Frauen zueinander hat eine geradezu opernhafte Tragik. Eine ungewöhnliche Freundschaft, „strahlend und finster“ zugleich.
Ganz zu Beginn, also am Anfang des ersten Bandes mit dem Titel „Meine geniale Freundin“, steckt die Autorin den Rahmen ab für ihre ausschweifende Erzählung, die am Ende sechs Jahrzehnte umfassen wird. Elena, in ihren Sechzigern, lebt mittlerweile in Turin, als sie einen Anruf von dem Taugenichts Rino erhält, Lilas Sohn. Der 40-Jährige beklagt, dass seine Mutter – bei der er immer noch lebt – spurlos verschwunden sei.
Elena ist keineswegs überrascht: „Sie wollte nicht nur verschwinden, jetzt, mit sechsundsechzig Jahren, sondern auch das ganze Leben auslöschen, das hinter ihr lag. Ich war unglaublich wütend.“ Es ist der Impuls, die Geschichte der beiden Freundinnen aufzuschreiben. Kaum verwunderlich also, dass am Schluss des vierten Bandes noch einmal ein Zeichen von Lila auftaucht, genauso rätselhaft, wie sich die Freundin immer gegeben hat.
„Die Geschichte des verlorenen Kindes“ setzt ein, als die Freundinnen Mitte dreißig sind. Elena hat sich von ihrem langweiligen Ehemann Pietro getrennt und ist mit ihren beiden Töchtern zurück nach Neapel gezogen: zu ihrer großen Liebe, dem sprachmächtigen Nino Sarratore, den sie seit ihrer Jugend liebt und verehrt. Dass er auch Lilas einstiger Liebhaber war, stört sie nicht. Auch nicht die Tatsache, dass Ninos Ehefrau schwanger wird, während er bereits Elenas Liebhaber ist. Elena genießt das Leben an der Seite des schillernden Nino und freut sich alsbald über ihre eigene Schwangerschaft. Die Freude ist umso größer, als auch Lila fast zeitgleich ein Mädchen zur Welt bringt. Dass die Liebe zu Nino in einer Katastrophe endet, wird den verständigen Leser kaum überraschen.
Lila lockt Elena mit ihren drei Mädchen zurück in den Rione, in eine Wohnung, die direkt über der von Lila und ihrer Familie liegt. Das erneute, enge Zusammenleben der beiden Frauen liefert den Hintergrund, vor dem Lila, die inzwischen eine erfolgreiche Computerexpertin mit eigener Firma geworden ist, nicht nur ihren widersprüchlichen Charakter zeigen kann: Sie schwankt zwischen Hilfsbereitschaft und Rivalität, zwischen Boshaftigkeit und Liebenswürdigkeit.
Ferrante zeigt überdeutlich, wie hoch der Anspruch ist, den Frauen an sich selbst stellen, wenn sie gute Mütter sein wollen, aber auch erfolgreich im Beruf und nicht zuletzt als Geliebte.
Fesselnd bis zum letzten Wort
Es ist ein ständiger Kampf gegen die Umstände – und auch zwischen Elena und Lila: eine Rivalität, die schon immer zwischen den beiden für Furore sorgte. Dramatisches passiert in diesen Jahren, nicht nur das furchtbare Erdbeben, das die Stadt Neapel erschüttert, sondern auch Raub, Mord, Verbrechen und andere Verwerfungen. Lila findet keine Ruhe. Und auch Elenas Glück ist von nur kurzer Dauer: „Anders als in den Geschichten neigt sich das wahre Leben, wenn es vorbei ist, nicht dem Licht zu, sondern der Dunkelheit.“
Elena Ferrante ist mit dem vierten Band erneut ein großer Wurf geglückt, der bis zum letzten Wort fesselt. Ihre präzise Sprache und die Vielschichtigkeit der Charaktere überzeugen auch jetzt wieder. Mit Wehmut und Trauer verabschiedet sich der Leser vom Rione und von einem unvergleichlichen Freundinnenpaar.
Elena Ferrante
Die vier Bände von Elena Ferrantes Neapel-Saga erschienen im italienischen Original zwischen 2011 und 2014. Erst das Lesefieber, das alsbald in den USA ausbrach, führte dazu, dass auch europäische Verlage aufmerksam wurden.
Bereits bei ihrem ersten Roman, der 1992 erschien, hatte sich die Autorin für ein Pseudonym entschieden. Ihre wahre Identität hat sie – trotz wilder Spekulationen des Literaturbetriebs – bis heute nicht preisgegeben.
In diesem Sommer erscheint bei Suhrkamp ein Selbstporträt der Autorin unter ihrem inzwischen weltweit bekannten Namen. sti
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