Das hat es bisher kaum gegeben: Nostalgische Rückschau auf ein Jahrzehnt, nur weil es 100 Jahre alt wird. Zugegeben, mit den 1910er Jahren, mit einer Reminiszenz an den alten Kaiser Wilhelm und das schneidige Preußentum samt dem Ersten Weltkrieg, wäre wohl kaum Staat zu machen gewesen. Und auch die 1930er und 1940er Jahre, die uns jubiläumsmäßig noch bevorstehen, eignen sich wirklich nicht zur nachträglichen kultigen Verehrung.
Da kommen die 1920er Jahre gerade recht. Im Deutschen werden sie verklärend die Goldenen Zwanziger genannt, bietet doch zumindest deren zweite Hälfte alles, was auch heutigen Unterhaltungsbedürfnissen noch genügt. Schrill, laut und kreativ, leichtsinnig, genusssüchtig und exaltiert, fegten sie die alte Zeit davon. The Roaring Twenties – die englische Bezeichnung – ist da treffender, wo doch schon im Adjektiv das Tosende, Brüllende und Schreiende transportiert wird.
Berlin stand damals im Mittelpunkt der rauschenden Chose. Varietés, Tanztheater, Bordelle, Ballsäle, Spielhöllen und alle anderen Arten gelebter Lasterhaftigkeit erblühten im Sumpf jener Jahre zwischen Kudamm und Potsdamer Platz, zwischen Alex und Unter den Linden. Die 1920er Jahre-Revue „Berlin, Berlin“, die vor kurzem im Admiralspalast Premiere hatte und nun von dort aus nach München, Köln, Düsseldorf, Hamburg und Stuttgart weiterzieht, lässt die Zeit von Charleston, Bubikopf und Zigarettenspitze wiederauferstehen. Kurz vor Weihnachten hatte die dritte Staffel des TV-Opus „Babylon Berlin “ in der Hauptstadt glanzvolle Premiere, zu sehen ab 24. Januar auf Sky und ab Herbst auch in der ARD.
Doch was ist das nun genau, dieser aufgewärmte 20er-Jahre Rausch? Einfach nur ein Trend, ein Marketing-Gag der Unterhaltungsbranche oder das Zelebrieren einer versunkenen Welt, in der noch gar nichts Sünde war, weder Rauchen, Fleischessen noch Autofahren oder der Urlaubsflug? Sind es die sich schließenden Augen vor der Realität? Oder die sich öffnenden Augen im Erkennen unheilvoll makabrer Parallelen? Die Tanzparty auf dem Vulkan? Waren die 20er Jahre nicht auch der Beginn der politischen Radikalisierung?
Undemokraten im Parlament
Inflation, Weltwirtschaftskrise, Mordanschläge auf politisch Andersdenkende und Straßenschlachten. Regieren wurde immer schwieriger, demokratisch gewählte Undemokraten zogen ins Parlament der Weimarer Republik ein und verhöhnten Recht, Gesetz, Kultur und Zivilisation, um schließlich selbst die Macht an sich zu reißen.
Wer sich nicht nur mit dem Amüsement jener wilden Jahre zufriedengibt, sondern literarischen Zeitzeugen wie Heinrich Mann, Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, Bertolt Brecht, Erich Kästner, Hans Fallada, Kurt Tucholsky, Carl von Ossietzky und anderen Gehör schenkt, findet die Vorboten des Nationalsozialismus ebenso warnend beschrieben wie die sträflich verharmlosende und sorglose Reaktion einer bürgerlichen Gesellschaft. Wie leicht lässt sich da die historische Distanz der vergangenen 100 Jahre vergessen.
Zum Glück ist unsere Gesellschaft stabiler als die der Weimarer Republik. Dafür haben die Gründerväter und -mütter weitsichtige Vorkehrungen getroffen. Eine visionär kluge Verfassung bietet zusammen mit sozialen Sicherungssystemen Schutzmechanismen, die es vor 100 Jahren noch nicht gab. Auch die paramilitärische Aufrüstung radikaler Parteien existiert heute höchstens in bedeutungslosen Ansätzen.
Aber vielleicht bedarf es gar keiner marschierenden und brüllenden Braunhemden mehr, um das Volk aufzuhetzen oder in Angst und Schrecken zu versetzen. Vielleicht erfüllen Internetplattformen und soziale Netzwerke diese Aufgabe unauffälliger aber effizienter. Der politische Mob wütet nicht mehr auf der Straße, sondern im Netz. Politiker aller demokratischen Parteien sind inzwischen Adressaten von Hassmails voller Beleidigungen oder gar Morddrohungen. Laut einer aktuellen Umfrage haben 94 Prozent aller Landespolitiker schon solche Mails erhalten. Wie leicht aus Worten tödliche Taten werden können, haben die Anschläge auf den Kassler Regierungspräsidenten Lübcke und die Synagoge von Halle gezeigt.
Und schon mischen sich in die Erinnerung an das lustvoll röhrende Getöse der Zwanziger Jahre ganz andere Töne. Die Zwanziger Jahre – Anfang einer neuen Zeit oder Anfang vom Ende? Welche Revue lassen wir da nun passieren im Admiralspalast oder im Wintergarten oder sonst überall beim trendigen 20er-Revival? Einfach nur Kult oder gar ein Menetekel? Beim nächsten Jahrzehnt verzichten wir wohl besser auf die 100-Jahr-Feier.
Babylon Berlin, 3. Staffel
Die Serie: Babylon Berlin, 3. Staffel
Der Sender: Sky 1 HD
Die Sendezeit: freitags, 20.15 Uhr
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