So bibliophil kam selten ein Buch von Botho Strauß daher: angenehm in der Hand liegender Leineneinband, großzügiger Satzspiegel mit edelgrauen Trennseiten zwischen den einzelnen Kapiteln, typographische Differenzierung zwischen dem abschließenden essayistischen und den vorangegangenen poetischen Abteilungen. Die bestehen aus Prosabetrachtungen, Traumbildern und Gedankensplittern; neben Naturbetrachtungen und sympathisch versponnenen romantischen Fantasien hin und wieder, aber in der Summe eher abnehmend, auch zeitphysiognomische Momentaufnahmen von Paaren und Passanten.
„Minuzien“ nennt Strauß diese Stücke: ein altmodisch edles Wort für Kleinigkeiten. Präsentiert werden sie fast ausnahmslos im Gestus der Beiläufigkeit. Nur diese Sprechweise, lässt Strauß durchblicken, sei dem eigenen „Lückenbüßerdasein“ als Dichter in dürftiger Zeit angemessen. Mitten im Leben stehen? Er habe nie gewusst, wo das sein soll; die Modi, in denen er sich seiner Existenz versichert, sind das Zögern und die Verlegenheit. Botho Strauß ist bescheidener geworden.
Überheblichkeit abgelegt
In der Vergangenheit hatte er seine Position des Einzelgängers in Bocksgesängen und anderen unzeitgemäßen Betrachtungen zuweilen mit einer gewissen Überheblichkeit vertreten. Davon ist in diesen Notaten kaum noch etwas zu spüren. Gelegentlich beklagt er den überall – leider auch in großen Teilen der Gegenwartsliteratur – herrschenden „Hybridjargon der Rationalität“, der selbst die Ungeheuerlichkeiten der „gentechnischen Bricolage“ noch kommunikativem Einverständnis unterwirft. Der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss nannte ein Verhalten, bei dem man mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen Probleme löst, statt für das Problem geeignete Mittel zu entwerfen, Bricolage. Mag sein, dass es einzelnen Schriftstellern gelingt, mit ihren Mitteln die innere Struktur und den Wirkungsradius dieses Sprechens in allen Lebensbereichen noch minutiös darzustellen. Auf Dauer wird man dieses „Kurz- und Magerdeutsch“ kaum durch Nahrhafteres ersetzen können.
Bleibendes könne der Dichter unter solchen Voraussetzungen also kaum noch stiften, allenfalls Verwirrung. Vielleicht mit zwei, drei Sätzen, die, keineswegs schwerfällig, doch so viel Gewicht aufbringen, dass darunter die „Fontäne der blöden Gescheitheit jäh in sich zusammensackt“. Keine Frage, Botho Strauß gelingen in diesen Miniaturen von zuweilen sommernachtstraumhafter Leichtigkeit solche Sätze. Strauß erweist sich dabei als ein Fortführer in zweifacher Hinsicht: Er führt seine Leser fort auf ein Terrain, weit entfernt von den alltäglichen Gewohnheiten, Geschäften und Gesinnungen. Fortführer ist der Dichter aber auch in dem Sinn, dass er auf dem Weg der Aneignung das Werk anderer weiterführt. „Man schreibt unter Aufsicht alles bisher Geschriebenen“, hat Strauß vor Jahren formuliert. Seitdem hat er gegen die pausbäckige Innovationsbesessenheit der Moderne seine Zeitgenossenschaft im Modus des Abschiednehmens und Vermissens von Vergangenem herausgestellt.
Kulturelle Überlieferung wichtig
In einer Gegenwart, die unisono, von der Politik bis zur Grundschulpädagogik, der Digitalisierung weit mehr Aufmerksamkeit schenkt als der kulturellen Überlieferung, macht es die entscheidende Differenz aus, wen sich einer auswählt, um dessen Werk fortzuführen. Bei Strauß sind dies unter anderem der deutsch-jüdische Philosoph Michael Landmann, der weitgehend vergessene Schriftsteller Albrecht Schaeffer oder die italienische Lyrikerin Cristina Campo. Ihnen widmet Strauß einfühlende Kurzporträts, die auch Einladungen sind, sich auf solche Werke abseits des Mainstreams einzulassen.
Der Südwestrundfunk (SWR) teilte mit, dass „Der Fortführer“ im Mai auf dem ersten Platz der SWR-Bestenliste stehe. Die Liste wird jeweils für den kommenden Monat von 30 unabhängigen Kritikern bestimmt.
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