Zwischen Sehnsüchten und Katastrophen hat Gustav Mahlers Musik sich schon immer ereignet. Das Schöne als utopischer Zukunftsort, ein Gegenpol zur Gewalt, die der neuzeitliche Mensch der Natur und damit auch sich selbst zufügt. Dazu benutzt Mahler komponierend ein Material, dessen subjektive Durchdringung er einer künstlerischen Sprache unterwirft, die den gesellschaftlichen Widerspruch zwischen Wollen und Können häufig unerbittlich benennt. Auch in seiner neunten Sinfonie, die Michael Francis und die Deutsche Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz als Beitrag zu ihrer „Modern Times“-Serie im Ludwigshafener Pfalzbau aufführten, greift Mahler auf dieses hochdifferenzierte intellektuelle System zurück, um sein Ich über Schmerz, Leid, Trauer oder Freude einem Netzwerk menschlicher Grundbefindlichkeiten anzuvertrauen.
Eigentlich gilt die „Neunte“ im Vergleich zu anderen Sinfonien Mahlers als weniger extrem, mehr an Synthesen als an Spaltungen orientiert. Doch Michael Francis findet in den ersten drei Sätzen genügend Konfliktpotenzial, um diese Einschätzung zu relativieren. Immer wieder wuchtet er, bewundernswert präzise vom Orchester unterstützt, instrumentale Verdichtungen in den Raum, schärft er dissonante Reibungen, forciert er manchmal zu Lasten klanglicher Transparenz die emotionalen Aufschwünge und Abstürze.
Ein konzentriertes Ausloten seelischer Befunde und kosmischer Weiten ist das, ein ständiges Öffnen und Schließen romanhafter Schichtungen, die als klingende Chiffren bedeutungsschwer an unseren Ohren vorüberziehen.
Alles in Bewegung versetzt
Für Francis ist Mahlers letzte vollendete Sinfonie eine Krisenmusik. In ihr finden sich existenzielle Deformationen seines Lebens, aber auch Anzeichen einer sich abschwächenden Tragfähigkeit klassischer Formen. Das, was sie einst in weltanschaulicher Kompetenz zuverlässig beschrieben, beginnt seit der Jahrhundertwende zu zerfallen. Der technische Fortschritt hat alles unaufhaltsam in Bewegung versetzt. Eine Entwicklung, die bald nach Mahlers Tod 1911 mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges in eine Katastrophe münden wird.
Damit endet auch Wiens Gemütlichkeit, deren Walzer und Ländler oft Mahlers trivialisierende Ironie herausforderten. Er hat es wohl geahnt. Denn was Francis und die vorzüglich spielende Staatsphilharmonie im zweiten Satz davon übriglassen, schroff ins Unerbittlich-Brutale gewendet, wirkt ebenso erschreckend wie später im dritten Satz fast richtungslos dahinstürmende Betriebsamkeit einer Musik, die häufig Fragmentarisches bietet oder zu albtraumhaften Sequenzen tendiert.
Von der Einsamkeit des Menschen und dem Trost der Musik erzählt Mahlers abschließendes Adagio, eine Traurigkeits-Apokalypse. Francis und das Orchester lassen diesen versiegenden, versickernden Klangstrom allmählich behutsam verstummen. Zutiefst berührend scheint hier in fast selbstverständlicher Gelassenheit nicht nur das Werk, sondern auch Mahlers Leben zu verlöschen. Ein Abschied in Zeitlupe.
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