Schauspielkritik

Der weibliche Körper als Streitobjekt am Mannheimer Nationaltheater

Ästhetisch bestechend und herzzerreißend zugleich: die Premiere der Romanadaption von Daniela Dröschers „Lügen über meine Mutter“ im Alten Kino Franklin

Von 
Martin Vögele
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Eine von drei famosen Schauspielerinnen: Antoinette Ullrich in „Lügen über meine Mutter“. © Maximilian Borchardt

Mannheim. Mit „Lügen über meine Mutter“ feiert am Mannheimer Nationaltheater Laura Linnenbaums Inszenierung des Romans von Daniela Dröscher Premiere. Dabei lassen drei famose Schauspielerinnen das Publikum durch die Augen eines Kindes blicken, das erleben musste, wie der Vater den als übergewichtig erachteten Körper seiner Frau zum Objekt verletzender Vorwürfe machte.

„Warum“. Das ist ein zentrales Wort, um das sich viel bewegen und dabei enorme emotionale Fliehkräfte freisetzen wird in den knapp zwei Stunden, die das Stück „Lügen über meine Mutter“ am Mannheimer Nationaltheater dauert. „Warum habt ihr geheiratet?“ „Warum bist du all die Jahre geblieben?“ „Warum hast du meinen Vater nicht verlassen, damals?“ Dies fragt eine Frau (mit der konzertiert wirbelnden Stimmkraft dreier famoser Schauspielerinnen), die zurückblickt in die 1080er Jahre, als sie ein Kind von sechs Jahren war, und die im Heute zu erfassen versucht, was weiland in ihrem westdeutschen Dorf geschah.

"Lügen über meine Mutter": Vom Mann zu Diäten gezwungen

Wo ihr Vater seine Frau als zu dick empfand, ihren als übergewichtig erachteten Körper für seine ausbleibenden beruflichen Erfolg verantwortlich machte und sie zu Diäten zwang. Wie es damals war, in dieser Familie, in die noch eine Schwester hineingeboren wurde, und in der es so schwer gewesen sei, „zwischen Lügen und Geheimnissen zu unterscheiden.“

Zur Schriftstellerin und zur Regisseurin

  • Daniela Dröschers autofiktionaler Roman „Lügen über meine Mutter“ wurde 2022 veröffentlicht. Im selben Jahr gelangte das Werk auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises. Bereits in „Zeige deine Klasse – Die Geschichte meiner sozialen Herkunft“ (2020) befasste sich die 1977 in München geborene und in Rheinland-Pfalz ausgewachsene Autorin mit ihrer Biografie.
  • Die Bühnenfassung des Romans für das Mannheimer Nationaltheater stammt von Regisseurin Laura Linnenbaum unter Mitarbeit von Dramaturgin Annabelle Leschke.
  • Linnenbaum, geboren 1986, studierte Diplom-Regie an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main. Seit der Spielzeit 2011/12 arbeitet sie als freischaffende Regisseurin. Vom Fachmagazin „Theater heute“ wurde sie 2017 für die Uraufführung von Ibrahim Amirs „Homohalal“ als Regisseurin des Jahres nominiert. „Homohalal“ von wurde außerdem 2018 zum Heidelberger Stückemarkt und zu den Mühlheimer Theatertagen eingeladen.
  • Weitere Vorführungen: 25. Februar sowie 2., 8. und 17. März. Mehr unter nationaltheater-mannheim.de

 

„Lügen über meine Mutter“ basiert auf dem gleichnamigen autofiktionalen Roman von Autorin Daniela Dröscher. Regisseurin Laura Linnenbaum hat daraus, zusammen mit Dramaturgin Annabelle Leschke, eine Bühnenfassung erstellt, in welche zudem Textmaterial von „Zeige deine Klasse“ eingearbeitet wurde – dem dritten Buch Dröschers, in dem sich die Schriftstellerin schon einmal mit ihrer sozialen Herkunft auseinandersetzte.

Roman "Lügen über meine Mutter" beleuchtet Zeit vor Bodypositivity

Ihr jüngster Roman beleuchtet eine Zeitspanne von vier Jahren in den 80ern, also lange bevor Begriffe wie „toxische Beziehung“ oder „Bodyshaming“ ein Bewusstsein für bis dato geduldete Formen von psychischer Gewalt und Despektion schaffen sollten. Oder auch dafür, welche Arbeitslast eine Frau trägt, die zwei Kinder erzieht, den Haushalt bestreitet und die obendrein die Großmutter pflegt.

Wir sehen die – durchaus selbstbewusste – Mutter in diesem familiären Kammerspiel durch die Augen des Kindes, dessen Wahrnehmung wiederum durch den Blick des Vaters mitgeformt wurde. Maria Munkert, Antoinette Ullrich, und Ragna Pitoll glänzen mit farbenreichem Spiel in dieser Uraufführung im Alten Kino Franklin, wobei die Rollen und Perspektiven fließend sind.

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Der Anfang ist voll klarer visueller Kraft und Intensität: Pitoll streift sich, als Vater, eine Augen- und weitgehend konturlose Maske (Bühne und Kostüme: Michaela Kratzer) über den Kopf und setzt sich ans Klavier. Munkert, als Mutter, legt das gesichtsverhüllende Gegenstück an und bügelt, was nach einem Hochzeitskleid aussieht. Der Beginn eines stupenden (Masken-)Spiels, das von feinnervig geäderter Dramatik durchzogen ist.

Ullrich beschreibt derweil aus kindlicher Sicht die Spannungen zwischen beiden, den Streit, die Vorwürfe. „Schämst du dich nicht“, meint Pitoll mit kühler Schärfe. „Ich verlange, dass du abnimmst“. Ullrich zählt eine schier endlose Litanei der Diäten auf, welche die Mutter durchlaufen habe (das Stück verfügt durchaus über schwarzen Humor), und es gibt Szenenapplaus, als sie meint: „Würden alle Frauen dieser Erde morgen früh aufwachen und sich in ihrem Körper wirklich wohl fühlen, würde die Weltwirtschaft über Nacht zusammenbrechen.“ Die Inszenierung entwickelt alsbald eine hohe theatrale Dynamik - es passiert Vieles und davon allerhand, wodurch wir indes bisweilen etwas den Fokus verlieren.

"Lügen über meine Mutter" am Nationaltheater Mannheim durchbricht vierte Wand

Es wird mit Verve getanzt, irgendwann regnet es eine veritable Wagenladung voller Kleidungsstücke auf die ausgiebig genutzte Drehbühne. Figurentheater-Elemente finden sich auch in einer Puppen-Familie wieder, die auf einem Plattenspieler rotiert und per Kamera auf eine Stoffbahn projiziert wird. Es gibt allegorische Märchenerzählungen und der 80er-Kontext wird auch etwa durch eine Aerobic-Szene betont.

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Ullrich durchbricht die vierte Wand, eröffnet dem Publikum, „dass alle heute toll aussehen“, um – wieder in der Tochter-Perspektive – zu betrauern, dass sie der Mutter das Gefühl nicht geben konnte, „dass sie wundervoll ist, genau so, wie sie ist“.

In barocke Reifrock-Pracht gehüllt, klinken die Spielerinnen gegen Ende ihre Haltegurte in Drahtseile ein und werden in die Höhe gezogen: Drei flügellose Engel, die wie Marionetten im Dunkeln schweben, während Chris Normans 1986er-„Tatort“-Schmonzette „Midnight Lady“ eingespielt wird (der Vater hatte das Lied gemocht, hieß es zuvor). Da oben erzählt eine grandiose Pitoll vom geistigen und körperlichen Dahinschwinden der Großmutter. Es ist ästhetisch bestechend und herzzerreißend zugleich, was wir hier sehen und hören, und zeigt, wozu diese Inszenierung in ihren besten Momenten in der Lage ist.

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