Irgendwie scheinen sie ihn am Goetheplatz nicht zu mögen, den guten alten „Faust“. Auffallend selten ist der akademisch frustrierte Grantler im letzten halben Jahrhundert am Nationaltheater zu Gast gewesen. Zuletzt war der er 2008 unter Burkhard C. Kosminski in der Regie von Georg Schmiedleitner im Schauspielhaus zu sehen. Sein Wirkungskreis war eine pluralistische Massenuniversität. Die Jugendsparte des Hauses wagte sich immerhin zweimal, 2016 und 2020 (mit einem sensationellen Uwe Topmann), an den Klassiker. Geht man die zweiteilige kanonische Tragödie an, braucht es im Quadrat offensichtlich einen Dreh.
Jens-Daniel Herzog ließ Regie-Berserker Frank-Patrick Steckel 2001 einen „Urfaust“ auf die NTM-Bühne bringen und sein Nachfolger Kosminski 2009 den Dramatiker Ewald Palmetshofer mit seinem Stück „faust hat hunger und verschluckt sich an einer grete“ in einer gänzlich kapitalisierten Welt fragen, was sie überhaupt noch „im Innersten zusammenhält.“
Ein Rückblick in die lokale Rezeptionsgeschichte
Als des Pudels und des Menschen Kern blieb dem nach Konsumation jeglicher Produkte eigentlich längst entkernten Menschen nur noch eins: der Mitmensch. Und das Zauberwort hieß Integration, an deren Gräten man sich allerdings heftig verschluckte.
In Zeiten des Corona-Lockdowns beteiligte sich das NTM-Schauspiel 2020 unter Christian Holtzhauer dann konform mit den Pandemieregeln mit einem „Faust - Live-Hörspiel-Konzept“ am „Carstival“ im Autokinoformat in Form einer rockigen Autokino-Ballade. Die lange Vorrede beweist: Normal geht es nicht. Und wenn das Publikum bei Christian Holtzhauer nach Klassikern greint, müssen eben Zugeständnisse her. Auf beiden Seiten.
Vermeintlich Bekanntes wird getransgendert, Dramen werden - durchaus auch mit Erfolg - zur knalligen Revue, zur Zirkusnummer oder zum Musical am Karpfenteich. Froh darf die Stadtgesellschaft sein, dass die Mannheimer Schauspielintendanz nun einen weiteren Zugang gefunden hat, Klassiker vom Podest herunter recht klein zu bekommen. Nun also „Faust (leicht)“ in Leichter Sprache.
Kein Abend für Germanisten
Regisseur Daniel Cremer hat zusammen mit Tina Lackner die Übersetzung übernommen und gemeinsam mit Mascha Luttmann eine Bearbeitung vorgenommen. Es ist, machen wir uns nichts vor, kein Abend für Germanisten, Goethe-Verehrer, Klassik- oder Vers-Freunde, so viel ist klar. Ziel ist es, auch Menschen, denen die elaborierte Sprache Goethe zu künstlich, zu altertümlich und somit unverständlich wäre, Theater- und Literaturgenuss zu ermöglichen.
„Hier sitz‘ ich nun, ich armer Tor.“ Der Sprachverehrer im Kritiker hat Schaum vorm Mund. Oder, um mal etwas Pathos in das Sujet zu bekommen: Es bricht ihm das Herz. „Verhunzung!“ schreit es von der einen, „Kulturelle Teilhabe!“ von der anderen Schulter. Und um Gott und Teufel und den schaffenden Menschen in der Mitte geht es ja schließlich; also Geduld: „Das ist Faust. Faust ist ein Mann. Faust lebt im Mittel-Alter. Das Mittel-Alter ist sehr lange her. Die Menschen im Mittelalter glauben an Gott... und an den Teufel“ sprechen die prologisierenden „wankenden Gestalten“ als tanzende Naturgeister und lustige Personen reihum in den Theaternebel.
Hätte er die Textfassung zuvor nicht gelesen, hätte den Kritiker bereits hier der Schlag getroffen. Doch wie bei so vielem im großen Welttheater - man gewöhnt sich (über 130 Minuten inklusive Pause) daran. Rettungstipp für Muttersprachler ohne Einschränkungen: Gespielt wird nicht Goethes „Faust“. Er wird nur die Geschichte, die Handlung erzählt.
Und schon flutscht‘s, denn, aufgemerkt, der Abend funktioniert ziemlich gut. Verblödelt wird hier nichts, denn Daniel Cremer und sein Team haben mit großer Sorgfalt und innerer Überzeugung an diesem Projekt gearbeitet, das handwerklich akkurat, szenisch funktional und atmosphärisch dicht ist.
Mephisto hat teuflichen Tango im Pferdefuß
Dass dieses - für einen Hochkulturpalast durchaus diskussionswürdige - Konzept aufgeht, ist auf der funktionsreichen Skelettbühne von Carolin Gieszner vor allem zwei Akteuren zu verdanken, um die vier dienstbare Kollegen (David Smith, Rocco Brück, Sarah Zastrau und Maria Helena Bretschneider) in den kleineren Rollen mit großer Spielfreude geistern: Ragna Pitoll und Boris Koneczny. Sein Faust ist weder larmoyant noch ironisch, sondern regelrecht wahrhaftig – und dabei nicht ohne Humor. Letzteres gilt auch für die wieder groß spielende Ragna Pitoll, der neben ihrer Sprechkunst diesmal auch ihre tänzerische Begabung zupasskommt. Verkörperung ist hier wörtlich zu nehmen. Ihr kühl gelassen irrlichternder Mephisto hat teuflischen Tango im Pferdefuß.
Kommen wir zum Kolorit der „Gelehrtentragödie“. „Faust will immer mehr erleben.“ Auerbachs studentischer Leipziger Keller wird zum Technoclub, wo sonst könnte man ältlichen Überdruss an der Spaßgesellschaft besser verstehen? Da ist „der weibliche Schoß“ immer noch attraktiver. „Faust will Gretchen und die Natur haben.“ Gretchen, die Maria Helena Bretscheider als jugendliche Naive, sympathisch über die Rampe bringt, wird freilich nicht „so, ich weiß nicht wie“, sondern einfach nur „komisch“. Und die Gretchenfrage lautet schlicht „Bist du religiös.“
„In Faust 2 passiert sehr viel.“
Ansonsten wird der Ex-Jungfer Schicksal bis zum himmlischen Ende durcherzählt, wozu es in einer Art Nachspiel dann der Tragödie zweiten Teil „leicht gekürzt“ braucht („In Faust 2 passiert sehr viel“). Das meiste davon berichtet uns Rocco Brück in einem höchst launigen Auftritt, in dem er uns geschwind von der anmutigen Gegend über des Kaisers Pfalz, Lustgärten und Rittersäle bis in das alte Griechenland zur schönene Helena sowie zu Philemon und Baucis jagt.
Wie es für den größenwahnsinnigen, stets unzufriedenen Grantler letztlich ausgeht? Keine Ahnung, das Licht geht aus, wir gehn nach Haus. Großer Jubel für alle Beteiligten. „Ach!“
Was ist „Leichte Sprache“?
Leichte Sprache ist leichter zu verstehen. Texte in Leichter Sprache haben kurze Sätze . Texte in Leichter Sprache haben einfache Wörter .
Prüfgruppen prüfen Texte in Leichter Sprache. Das sind Menschen für die der Text geschrieben ist. Zum Beispiel: Menschen mit Schwierigkeiten beim Lernen . Leichte Sprache ist in vielen Bereichen im Leben wichtig. Zum Beispiel: Welche Partei will ich wählen? Bei welchem Verein will ich mitmachen?
Leichte Sprache ist auch für kulturelle Teilhabe wichtig. Kulturelle Teilhabe bedeutet: Mehr Menschen können ins Museum gehen. Mehr Menschen können ein Theaterstück verstehen . Leichte Sprache hilft Millionen Menschen in Deutschland. Zum Beispiel: Menschen mit Problemen beim Lesen und Schreiben. Menschen die gerade Deutsch lernen.
Weitere Vorstellungen von „Faust“ nach Johann Wolfgang von Goethe in einer Bearbeitung von Daniel Cremer und Mascha Luttmann. (Übersetzung in Leichte Sprache: Daniel Cremer und Tina Lackner) am 13. und 18. April sowie am 2., 8. und 15. Mai. Karten unter 0621/1680 150. rcl
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